Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
des Buches anschaulich geworden ist. Jedenfalls ist mir selbst diese Sicht immer plausibler geworden. Denn je mehr ich mich darauf eingelassen, ja mir erlaubt habe, Tiere als Individuen und Subjekte mit dem Recht auf ihr eigenes Leben anzusehen, desto zwingender schien es mir, und desto mehr weitere Rechtsverletzungen in unserem Umgang mit Tieren fielen mir auf, die ich vorher gar nicht so stark wahrgenommen hatte.
Vielleicht kann man diese Entwicklung auch am Gang meiner Argumentation und bereits meiner Fragestellungen erkennen: Im zweiten Kapitel ging es zunächst um Labortiere, die auf minimalem Raum gehalten werden, die keinerlei Spielraum haben, ihre natürlichen Fähigkeiten auszuleben, die früh getötet werden und bis dahin viele Schmerzen und Ängste zu erdulden haben. Trotzdem habe ich ein Kapitel lang die Frage verfolgt, ob vitale menschliche Interessen solch eine Behandlung von Tieren erlauben könnten. Ich kam zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall ist: Selbst wenn uns unsere eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Nöte wichtig sind, dürfen wir unbeteiligte andere nicht beliebig für unsere Zwecke einspannen.
Als nächstes habe ich mich dem hypothetischen Fall glücklicher Nutztiere zugewandt: Wenn es sich annähernd schmerz- und leidfrei vollziehen ließe, dürften wir Tiere zum Beispiel töten, weil sie uns schmecken? Auch diese Frage muss man verneinen, wenn man sich erst einmal dazu durchgerungen hat, das Offensichtliche zuzugestehen: dass ein Lebewesen, das in der Lage ist, bewusst Glück oder Zufriedenheit oder Wohlbefinden zu erleben, selbstverständlich auch weiterleben will.
Nachdem ich also unser Recht, Tieren Qualen zuzufügen und ihnen das Leben zu nehmen, verneint habe, habe ich im vierten Kapitel gefragt, ob denn wenigstens die mildeste Form der Einschränkung tierischen Lebens zulässig ist: sie im gängigen Sinne zu «halten», wobei wir ihre Bewegungsfreiheit, ihr körperliches Befinden und ihre sozialen Beziehungen einschränken. Weil wir nicht das Recht haben, den Lebensvollzug anderer willkürlich einzuschränken, bin ich zu der Auffassung gelangt, dass auch dies abzulehnen ist.
Ich kann nicht davon ausgehen, dass ich damit alle Leser überzeugt habe, aber ich hoffe doch, dass mir bis hierher einige gefolgt sind, ohne ständig ablehnend den Kopf zu schütteln. Und wenn man nun genauer hinschaut, hat sich die Perspektive vom zweiten bis zum vierten Kapitel unter der Hand umgekehrt. Von der Frage, ob wir Tieren das denkbar Schlimmste zumuten dürfen, sind wir zu einer neuen gelangt: Warum gehen wir meist wie selbstverständlich davon aus, dass wir Tiere überhaupt einschränken und unseren Zwecken unterordnen dürfen?
Anders gesagt: Im Laufe dieses Buches ist die hier vorgestellte Moral immer umfassender geworden, weil ich Tiere immer stärker als Individuen mit eigenen Rechten angesehen und ernst genommen habe. Die vorrangige Frage ist nicht mehr: Wie viel Qual darf man einem Tier zufügen? Sondern: Was darf man einem unbeteiligten empfindenden Lebewesen überhaupt abverlangen? Und diesen Perspektivwechsel sollten wir auch im praktischen Tierschutz und in der Gesetzgebung vollziehen: Wir dürfen das Tier nicht von vornherein als «Nutztier» ansehen und auf dieser Grundlage überlegen, wie wir ihm sein derzeit unzumutbares Los ein wenig erträglicher machen können. Sondern jedes Tier hat a priori das Recht auf den Vollzug seines eigenen Lebens. Wenn wir über Einschränkungen und Zumutungen, Wohl und Schutz sprechen, dürfen wir nicht vom «Nutztier», sondern müssen vom freien Tier her denken.
Dieses Recht der Tiere, von uns nicht willkürlich zu diesem oder jenem Zweck herangezogen zu werden, hat übrigens auch Konsequenzen für kleine Alltagshandlungen, die uns meist nicht als tierschutzrelevant auffallen. Denken wir an die völlig gängige Praxis, kleine Katzen und Hunde im Alter von wenigen Wochen ihren Müttern wegzunehmen, weil wir die Kleinen so niedlich finden und «liebhaben» wollen. Aber ihre Mütter lieben sie auch, und sie lieben und brauchen ihre Mütter! Oder bei «Nutztieren»: Hin und wieder werde ich gefragt, ob ich nicht ein paar Schafe als Dekoration für ein Krippenspiel oder einen Mittelaltermarkt «ausleihen» wolle. Doch Schafe verabscheuen es, von ihrer Herde getrennt zu werden, ich müsste sie einfangen oder in den Transporter treiben. Dabei hätten sie selbst von der ganzen Aktion nichts außer Stress.
Schließlich bei Wildtieren: Was empfinden wohl
Weitere Kostenlose Bücher