Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
werden.
Nicht immer also ist das, was wir momentan dringend wollen, wirklich «das Beste» für uns und in unserem wirklichen Interesse. Der verunglückte Motorradfahrer wäre lieber gestorben, als länger auf den Rettungswagen zu warten. Ich fürchte aber – um wieder auf die Euthanasie von Tieren zurückzukommen –, es kann manchmal auch umgekehrt sein. Und ich spreche hier wirklich nur von der Euthanasie von Tieren, mit denen wir ja nicht verbal kommunizieren und die sich zu keinem Zeitpunkt des Lebens derart abstrakte Gedanken über ihr Leben machen können. Von menschlichen Extremsituationen spreche ich hier nicht. Aber bei Tieren ist es leider eine schöne Legende, dass der Lebenswunsch in ihnen allen gegen Ende des Lebens von alleine verblasse; manchmal scheint es so zu sein, manchmal auch nicht.
Eine meiner Hennen – sie hieß Keira – erlitt eines Tages etwas, das mir wie ein Schlaganfall erschien.[ 38 ] Von da anblieb sie beinah reglos stehen. Sie fraß nicht, trank nicht, ging nicht umher, legte sich nicht hin. Ich dachte, es würde von allein bald zu Ende gehen. Das tat es nicht. Nach ein paar Tagen rief ich den Tierarzt zur Euthanasie. Kurz bevor der Tierarzt kam, bewegte sich Keira plötzlich wieder und fraß ein ihr dargebotenes gekochtes Ei mit Begeisterung. Ich bestellte den Tierarzt ab. Zwei Stunden später fiel Keira wieder in ihre Starre. Das ging noch ein paar Tage so weiter. Mehrmals wurde der Tierarzt gerufen und wieder abbestellt. Dann packte ich Keira ins Auto und fuhr sie zur Vogelklinik. Keira konnte nicht mal mehr allein stehen, ich nahm sie behutsam zwischen die Knie. In jeder Kurve fiel sie beinahe um.
Die Vogelärztin sah schnell, dass Keira keinerlei Reserven mehr hatte und dass sie wahrscheinlich sogar stark litt. Wir einigten uns darauf, sie einzuschläfern. Aber noch in dem Moment, als Keira die Spritze spürte, schrie sie auf, wurde plötzlich wieder lebhaft, sammelte noch einmal sämtliche ihrer Kräfte … Da flackerte er ganz deutlich auf, dieser Funke, dieser Wunsch zu leben. Dann schlief Keira ein, und die sichtlich betroffene Tierärztin flüsterte: «Jetzt hast du es geschafft.»
Obwohl Keira in diesem letzten Moment noch leben wollte, denke ich, dass es richtig war, sie zu «erlösen». Der Wunsch zu leben ist uns denkbar tief eingepflanzt, er spornt uns an, trägt uns durchs Leben. Aber wie jeder andere Wunsch, jeder andere Impuls kann auch er kurzfristig «gegen uns» arbeiten. Das zeigen ganz triviale Beispiele: Oft verspüre ich Lust auf Süßes, obwohl weniger Süßes sicher besser für mich wäre; ältere Menschen haben oft keinen Durst, obwohl sie mehr trinken sollten. Man kann das nicht alles eins zu eins übersetzen. Das heißt nicht, dass unsere Wünsche und Empfindungen nicht zu respektieren wären. Sie leiten uns im Leben und sollten andere bei ihren uns betreffenden moralischen Entscheidungen leiten. Aber bei derBestimmung dessen, was dauerhaft am Besten für uns oder andere und im eigentlichen Interesse ist, dürfen wir den Blick nicht nur auf den Moment richten.
Wie bei Tieren ein gutes Leben eigentlich zu bestimmen ist, darum geht es im nächsten Kapitel. Grundsätzlich können wir jedenfalls (bisher?) das menschliche Leben besser den Phasen des Verfalls und des Schmerzes anpassen als das eines Tiers. Menschen können in Krankenhäusern gepflegt werden, sie können sich zum Schmerzempfinden äußern, die Dosis der Schmerzmedikation sogar mit regulieren. Auch einige zahme Haustiere kann man vielleicht noch intensiv pflegen; aber meine Schafe als geradezu fanatische Herdentiere würden furchtbar leiden, wenn sie in ein Krankenzimmer müssten. Gelegentlich kann ich sie, wenn nötig, für kurze Zeit separieren; aber eine verlängerte Phase des Alleinseins vor dem Tod, nur mit dem Zweck, langsamer und in Ruhe zu altern, würde für sie nur Qual bedeuten, nicht positive Lebensverlängerung.
Beim Nachdenken über das, was für ein Tier das Beste wäre, dürfen wir uns also nicht nur an dem orientieren, was wir selbst (vermeintlich) gerne hätten, sondern müssen die Eigenheiten der Tiere mit berücksichtigen. Dennoch müssen wir uns von einer Vorstellung lösen: Der ideale oder «richtige» Zeitpunkt für eine Euthanasie lässt sich nicht finden – weil es nämlich kein physikalisch oder medizinisch exakt bestimmbarer Zeitpunkt ist. Man kann nur hoffen, einen Zeitpunkt zu finden, von dem man nachher nicht sagt, er sei zu spät oder zu früh gewesen.
Am
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