Arthur & George
Gegenleistung erwartet er Frieden.
Er bekommt keinen Frieden, schon gar nicht aus seinem Inneren heraus. Wenn er Jean eine Weile nicht sehen kann, versucht er, sie näher heranzuholen, indem er das tut, was sie gern täte. Weil sie eine begeisterte Reiterin ist, erweitert er seinen Reitstall in Undershaw von einem auf sechs Pferde und beginnt an Fuchsjagden teilzunehmen. Weil Jean musikalisch ist, beschließt Arthur, Banjo spielen zu lernen, ein Beschluss, den Touie mit der gewohnten Nachsicht aufnimmt. Arthur spielt jetzt Bombardon und Banjo, obwohl keines der beiden Instrumente bekannt dafür ist, dass es sich zum Begleiten eines klassisch ausgebildeten Mezzosoprans eignet. Manchmal arrangieren er und Jean es so, dass sie in der Zeit ihrer Trennung dasselbe Buch lesen – Stevenson, Meredith, die Gedichte von Scott; sie stellen sich gern vor, dass der andere dieselbe Seite, denselben Satz, dieselbe Formulierung, dasselbe Wort, dieselbe Silbe liest.
Touies Lieblingslektüre ist Thomas von Kempens Über die Nachfolge Christi . Sie hat ihren Glauben, ihre Kinder, ihre Behaglichkeit, ihre stillen Beschäftigungen. Arthurs schlechtes Gewissen sorgt dafür, dass er ihr gegenüber äußerste Rücksichtnahme und Sanftheit walten lässt. Selbst wenn ihr frommer Optimismus an ungeheuerliche Selbstgefälligkeit zu grenzen scheint und er spürt, wie sich der Zorn in ihm zusammenballt, weiß er, dass er diesen nicht an ihr auslassen kann. Zu seiner Schande lässt er ihn an seinen Kindern, an Dienstboten, Caddies, Eisenbahnangestellten und idiotischen Journalisten aus. Touie gegenüber bleibt er äußerst pflichtbewusst, und er bleibt äußerst verliebt in Jean; in anderen Lebensbereichen aber wird er harscher und reizbarer. Patientia vincit lautet die Mahnung in buntem Glas. Doch er spürt, dass ihm ein steinerner Panzer wächst. Sein natürlicher Gesichtsausdruck verwandelt sich in den starren Blick eines Anklägers. Er durchschaut andere vorwurfsvoll, weil er daran gewöhnt ist, sich selbst zu durchschauen.
Er beginnt, sich ein geometrisches Bild seiner selbst zu machen, bei dem er im Zentrum eines Dreiecks steht. Die drei Frauen in seinem Leben bilden die Eckpunkte des Dreiecks, die eisernen Schranken der Pflicht seine Seiten. Jean hat er selbstverständlich an die Spitze gestellt, und Touie und die Mama an die Basis. Doch manchmal scheint sich das Dreieck um ihn zu drehen, und dann schwindelt ihn.
Jean äußert nie die geringste Klage oder den leisesten Vorwurf. Sie sagt, sie könne, sie wolle niemals einen anderen Menschen lieben; das Warten auf ihn sei ihr keine Last, sondern eine Freude; sie sei vollkommen glücklich; ihre gemeinsamen Stunden seien der wahre Mittelpunkt ihres Lebens.
»Mein Liebling«, sagt er. »Glaubst du, dass es seit Anbeginn der Welt je so eine Liebesgeschichte wie die unsere gegeben hat?«
Jean spürt, wie ihr die Tränen kommen. Gleichzeitig ist sie ein wenig erschrocken. »Mein liebster Arthur, das ist kein sportlicher Wettbewerb.«
Er akzeptiert den Vorwurf. »Und dennoch, wie viele Menschen haben erlebt, dass ihre Liebe so auf die Probe gestellt wurde wie die unsere? Ich würde meinen, unser Fall ist nahezu einzigartig.«
»Hält nicht jedes Paar seinen Fall für einzigartig?«
»Es ist ein weitverbreiteter Irrtum. Bei uns hingegen …«
»Arthur!« Jean meint, Prahlerei sei der Liebe nicht angemessen; sie findet das eher vulgär.
»Und dennoch«, beharrt er, »dennoch habe ich manchmal – nicht oft – das Gefühl, als ob ein Schutzgeist über uns wacht.«
»Ich auch«, stimmt Jean zu.
Arthur findet die Vorstellung von einem Schutzgeist nicht phantastisch oder auch nur banal. Er findet sie einleuchtend und real.
Dennoch braucht er einen irdischen Zeugen ihrer Liebe. Er muss sie unter Beweis stellen. Er gewöhnt sich an, Jeans Liebesbriefe an die Mama weiterzuleiten. Er fragt Jean nicht um Erlaubnis und hält das auch nicht für einen Vertrauensbruch. Jemand muss wissen, dass ihre Gefühle füreinander noch immer so frisch sind wie eh und je und ihre Schicksalsprüfungen nicht vergeblich. Er sagt der Mama, sie solle die Briefe vernichten, und bietet ihr mehrere Verfahren zur Auswahl an. Sie kann sie entweder verbrennen oder – besser noch – in winzige Fetzen zerreißen und diese zwischen den Blumen am Masongill Cottage verstreuen.
Blumen. Es vergeht kein Jahr, ohne dass Jean am 15 . März ein einzelnes Schneeglöckchen mit einer Karte von ihrem geliebten Arthur bekommt.
Weitere Kostenlose Bücher