Arthur & George
und Leibesertüchtigung und die neue amerikanische Wissenschaft der Körperbildung.«
»Wollen Sie damit sagen, es habe in der Nacht der Gräueltaten … sexuelle Absichten oder Vorfälle gegeben?«
»Nicht direkt, nein. Aber Sie haben mich gefragt, wie das meiner Meinung nach war und warum. Lassen wir im Moment einmal vieles von dem gelten, was Sie über den jungen Mann sagen. Er war ein guter Schüler, ein Sohn, der seinen Eltern Ehre machte, in der Kirche seines Vaters betete, nicht rauchte und nicht trank und in seiner Kanzlei hart arbeitete. Dafür müssen Sie mir aber auch zugestehen, dass es wahrscheinlich noch eine andere Seite von ihm gibt. Wie könnte es in Anbetracht seiner eigenartigen Erziehung, seiner starken Isolation und Vereinzelung, seines übermäßigen Triebes anders sein? Am Tage ist er ein gewissenhaftes Mitglied der Gesellschaft. Und bei Nacht bricht ab und zu etwas Barbarisches in ihm durch, etwas, das tief in seiner dunklen Seele begraben ist, etwas, das er womöglich selbst nicht begreift.«
»Das ist reine Spekulation«, sagte Doyle, doch es lag etwas in seiner Stimme – etwas Leiseres und nicht ganz so Überzeugtes –, das Anson nicht entging.
»Sie wollten doch, dass ich spekuliere. Sie werden zugeben, dass ich mehr Beispiele von verbrecherischem Verhalten und verbrecherischen Absichten erlebt habe als Sie. Das ist die Grundlage meiner Spekulationen. Sie legten Wert auf die Feststellung, dass Edalji der gebildeten Schicht angehört. Wie häufig, so fragten Sie damit indirekt, begehen die gebildeten Schichten Verbrechen? Häufiger, als Sie glauben möchten, war meine Antwort. Ich würde die Frage jedoch gern in veränderter Form an Sie zurückgeben, Sir Arthur. Wie oft kommt es vor, dass glücklich verheiratete Männer, deren Glück naturgemäß auch mit regelmäßiger sexueller Erfüllung einhergeht, Verbrechen von gewalttätiger und widernatürlicher Art begehen? Sind wir der Meinung, dass Jack the Ripper ein glücklich verheirateter Mann war?
Nein, das sind wir nicht. Ich würde noch weitergehen. Ich würde behaupten, wenn einem normalen, gesunden Mann sexuelle Erfüllung fortwährend versagt bleibt, aus welchem Grund und unter welchen Umständen auch immer, dann kann – ich sage nur kann, ohne es stärker zu formulieren – dann kann das seinen Geisteszustand angreifen. Ich meine, das ist bei Edalji geschehen. Er hatte das Gefühl, in einem furchtbaren Käfig mit eisernen Gittern gefangen zu sein. Wann würde er je entkommen? Wann würde er je zu sexueller Erfüllung gelangen? Meiner Ansicht nach kann anhaltende sexuelle Frustration über Jahre hinweg den Geist eines Mannes angreifen, Doyle. Am Ende betet er womöglich absonderliche Götter an und vollzieht absonderliche Riten.«
Sein berühmter Gast gab keine Antwort. Ja, Doyles Gesicht schien ganz rot angelaufen zu sein. Vielleicht war das die Wirkung des Brandys. Vielleicht war der Mann trotz seines weltläufigen Gehabes doch prüde. Oder vielleicht – und das schien das Wahrscheinlichste zu sein – hatte er die erdrückende Macht der Argumente gegen ihn erkannt. Auf jeden Fall blieb sein Blick starr auf den Aschenbecher gerichtet, während er das noch längst nicht aufgerauchte Ende einer sehr anständigen Zigarre ausdrückte. Anson wartete, doch jetzt schaute sein Gast ins Feuer und wollte oder konnte nicht antworten. Nun, damit war das wohl erledigt. Man konnte zu praktischeren Dingen übergehen.
»Ich hoffe, Sie werden heute Nacht tief und fest schlafen, Doyle. Doch seien Sie gewarnt – manch einer glaubt, dass es in Green Hall spukt.«
»Ach, wirklich?«, kam die Antwort. Doch Anson sah, dass Doyle in Gedanken weit weg war.
»Es soll hier einen Reiter ohne Kopf geben. Auch ein Knirschen von Kutschenrädern auf dem Kies der Auffahrt, aber keine Kutsche. Auch ein Läuten geheimnisvoller Glocken, aber es wurden niemals Glocken gefunden. Alles Quatsch, natürlich, völliger Quatsch.« Anson fühlte sich ausgesprochen belebt. »Aber ich glaube kaum, dass Sie für Phantome und Zombies und Poltergeister empfänglich sind.«
»Die Geister der Toten können mir nichts anhaben«, sagte Doyle mit ausdrucksloser, müder Stimme. »Ja, sie sind mir geradezu willkommen.«
»Frühstück ist um acht, wenn Ihnen das recht ist.«
Doyle zog sich – geschlagen, wie Anson annahm – zurück, und der Chief Constable fegte die Zigarrenstummel ins Feuer und sah sie kurz aufflackern. Als er ins Bett ging, war Blanche noch wach und las
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