Artikel 5
Blick auf Chase zurück.
Da hatte er recht. Chase war ungewöhnlich schweigsam. Er war allgemein nicht allzu geschwätzig, aber so still war er üblicherweise nicht. Irgendetwas belastete ihn. Ich konnte es deutlich spüren.
»Ich nehme an, ihr sucht Arbeit«, sagte Wallace; ich fühlte, wie Chase sich neben mir anspannte, und fragte mich, was wohl in seinem Kopf vorging. Für ihn sollte es erstrebenswert sein, sich dem Widerstand anzuschließen. Auf diese Weise könnte er zurückschlagen und sich für alles, was ihm genommen wurde, bei der MM rächen.
Auch auf mich wirkte diese Vorstellung recht anziehend, aber ich verdrängte das Gefühl. Ich konnte mir nicht erlauben, über die Suche nach meiner Mutter hinauszudenken. Immer ein Schritt nach dem anderen.
»Wir suchen Mr Tubman«, erklärte ich, als Chase nicht antwortete. Sein Schweigen fing an, mir ernsthaft zu schaffen zu machen. Er vermittelte den Eindruck, dass der Widerstand ihn mehr reizte, als ich angenommen hatte. Wenn er sich jetzt und hier diesen Leuten anschloss, würde er mich auf meiner Reise womöglich nicht weiter begleiten. Konfrontiert mit der Erkenntnis, dass sich unsere Wege trennen würden, verlagerte ich unbehaglich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Ein sicheres Haus.« Wallace schnalzte mit der Zunge. »Eine Vergeudung von Talent.« Mit diesen Worten meinte er offensichtlich uns beide, nicht nur Chase. Mir war nicht klar, auf welche Talente er sich in meinem Fall beziehen mochte, doch dann ging mir auf, dass die Radioberichte mich vermutlich als ausgekochter dargestellt hatten, als ich tatsächlich war. Dass ich aus der Reformschule geflohen und der MM entkommen war. Dass wir uns der Diebe in Hagerstown erwehrt und Fahrzeuge gestohlen hatten. All das traf natürlich zu, aber in der Realität war es weit weniger beeindruckend, als es aus zweiter Hand klingen mochte.
»Keine Vergeudung«, konterte Chase nachdrücklich, und ich war wieder zuversichtlicher in Hinblick auf die Frage, ob wir die richtige Entscheidung treffen würden.
Wir wollten gerade noch etwas sagen, als es vor der Tür laut wurde und drei Männer hereinstürmten. Zwei müssen Brüder gewesen sein. Einer war Ende zwanzig, der andere älter. Sie hatten dunkles Haar und dunkle Augen, und dem Jüngeren war offenbar kürzlich die Nase gebrochen worden, während der Ältere einen blauen Fleck unter dem rechten Auge hatte. Der Dritte war ein drahtiger Rotschopf und etwa in Chases Alter. Getrocknetes Blut klebte auf seiner Wange. Ich erkannte sie nicht, aber mir war klar, dass dies die anderen Soldaten vom Market Square sein mussten, denn wie Sean trugen sie ihre Uniformen in schwarzen Müllbeuteln bei sich.
Stimmen wurden laut, und alles war in Bewegung, als alle gleichzeitig zu reden ansetzten.
»Bring sie hier raus, Banks. Danach kommst du zurück zur Einsatzbesprechung«, befahl Wallace. »Morgen bringst du sie persönlich zu Tubman.«
Ich wäre gern geblieben, aber ich war froh, dass Wallace unserer Abreise zugestimmt hatte.
Sean führte uns hinaus in den Korridor und weiter weg von der Treppe. Hier und da steckten Leute ihre Köpfe zu Türen heraus, um zu erfahren, was auf dem Platz vorgefallen war. Einigermaßen erstaunt erkannte ich, dass anscheinend die ganze Etage voller Widerstandskämpfer war.
Das Zimmer, das wir nun betraten, war beengter als das von Wallace. Ein Sessel mit einem mottenzerfressenen Samtbezug war, eingeklemmt von einer unbezogenen Doppelbettmatratze, in eine Ecke gequetscht, und auf einem kleinen Nachttischchen standen Müslipackungen und Wasserflaschen von Horizons.
»Wohnt hier jemand?«, fragte ich und starrte sehnsüchtig die Lebensmittel an. Seit einer Pause am Vormittag im östlichen Kentucky hatte ich nichts mehr gegessen. Ich war am Verhungern.
»Früher«, entgegnete er ergrimmt, und mir wurde ganz anders, als mir aufging, dass der frühere Bewohner entweder gefangen genommen oder getötet worden war. »Rede, Miller. Schnell.«
Sofort erzählte ich ihm alles, was ich wusste, angefangen mit der Nacht, in der ich die beiden erpresst hatte, bis hin zu meiner Entführung aus der Hütte, und ich wagte nicht, Chase dabei auch nur einmal anzusehen. Nicht, dass wir nicht auch schlimme Dinge getan hätten, aber das Geheimnis über die Art und Weise, wie ich diesen Leuten geschadet hatte, schwelte seither in mir, und ich schämte mich mehr als je zuvor.
Chase streifte wie ein Raubtier im Käfig durch den Raum, während ich sprach,
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