Artikel 5
wenn sie mich schnappen, verstehst du?«
Immer noch keine Antwort.
»Chase!« Ich schlug mit der Faust auf das Fensterbrett, und die Scheibe klirrte im Rahmen. »Hörst du mir zu?«
»Ja.« Er stand direkt hinter mir. Ich wirbelte zu ihm herum.
»Ja, du bist einverstanden?« Ich wusste, ich müsste erleichtert sein, aber so fühlte ich mich nicht.
»Ja, ich höre zu. Nein, ich bin nicht einverstanden.«
Die alte Furcht vereiste mir das Rückgrat, die Furcht, die ich heute schon auf dem Platz gespürt hatte. Die Furcht, meine Mutter könnte am Ende auf sich selbst gestellt sein. Die Furcht, Chase könnte geschnappt und zum Tode verurteilt werden. Nun strömten mir die Tränen über das Gesicht. Sinnlos, noch zu versuchen, sie vor ihm zu verbergen.
»Warum nicht? Wenn mir etwas passiert …«
»Dir wird nichts passieren!« Er packte mich an den Ellbogen und zwang mich, mich auf die Zehenspitzen zu stellen. In seinen Augen loderte ein Zorn, von dem ich wusste, dass er nur aus Furcht entstanden sein konnte. Wie konnte ich das wissen, überlegte ich kurz. Wie konnte ich ihm das ansehen, wenn ich doch kaum wusste, was ich empfand?
»Was, wenn doch?«, gab ich zurück. »Ich könnte sterben, so wie Katelyn Meadows! Ich könnte verhungern wie der Mann auf dem Platz! Ich könnte von der MM gefangen genommen werden oder erschossen …«
» HÖR AUF !«, brüllte er, und mir blieb der Mund offen stehen. Er atmete abgehackt, und sein Gesicht sah in der Dunkelheit furchtbar blass aus, während er um seine Fassung rang. Mit mäßigem Erfolg.
»Ember, ich schwöre bei meinem Leben, ich werde nicht zulassen, dass so etwas passiert.«
Ich fiel ihm in die Arme und weinte nun ungehemmt, weil ich mich fürchtete. Weil ich nicht sterben wollte. Weil ich, wenn ich es doch tat, weder meiner Mutter noch Chase eine Zukunft sichern konnte. Den Menschen, die ich liebte.
So wie jetzt hatte ich noch nie in seiner Gegenwart geweint. Alles, was ich unterdrückt hatte, brach nun über mich herein. Der Verlust meiner Mutter. Die Sehnsucht nach meinen Freunden. Die Scham, weil ich Sean und Rebecca so wehgetan hatte. Die Erinnerung an den Schleuser, der um seines Sohnes willen um sein Leben gefleht hatte. Der Mann auf dem Platz. Chase barg mich an seinem Körper, schützte mich vor den Ängsten, die auf uns beide einpeitschten.
»Warum bist du mir zu Hilfe gekommen?«, schluchzte ich. »Wenn Sean ein echter Soldat gewesen wäre, hätte er dich umbringen können.«
»Das ist mir egal.«
»Mir aber nicht!«
»Ich lasse dich nicht allein.«
Ich wich zurück, aber er wollte mich nicht gehen lassen.
»Ist das nicht das, was du so oder so tun wirst? Mich alleinlassen? Sobald wir das sichere Haus erreicht haben?«
Er klappte den Mund auf. Und wieder zu.
»Ich … das wollte ich dir überlassen.«
Was sollte das bedeuten? Ich könnte ihm einfach seine eigene Sicherheit verwehren, wenn ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte? Als hätten wir nicht den größten Teil unseres Lebens gerade fünf Meter voneinander entfernt verbracht. Wer war ich, solch eine Entscheidung zu treffen? Aber es ging nicht um mich. Er lud mir diese Entscheidung auf, weil es für ihn einfacher wäre, sollte ich ihn fortstoßen. So käme er nicht in die Verlegenheit, meine Gefühle zu verletzen. So könnte er einfach hierher zurücklaufen und sich dem Widerstand anschließen.
»Lass mich los«, forderte ich verunsichert und versuchte, tief Luft zu holen, aber mein Hals war wie zugeschnürt. »Ich weiß, du willst dein Versprechen halten. Also gut. Beschütz mich. Aber wenn wir dort ankommen, endet deine Verpflichtung mir gegenüber. Du schuldest mir gar nichts. Du bist schon einmal gegangen, und ich habe es überlebt, Chase. Das kann ich auch wieder tun.«
Schockiert starrte er mich an. Ich konnte selbst kaum fassen, was ich da gerade gesagt hatte.
»Jetzt bin ich müde«, verkündete ich. »Hier sind mehr als genug Leute, die Wache halten können.« Ich ermahnte mich, den Kopf nicht hängen zu lassen, und öffnete die Tür. »Ich komme gut allein zurecht.«
»Ich nicht.«
Ehe ich mich zu ihm umdrehen konnte, legte er sanft eine Hand auf meine und drückte die Tür wieder zu. Plötzlich wurde mir jede seiner Bewegungen enorm bewusst. Die Anspannung der Muskeln in seinen Schultern. Sein veränderter Atemrhythmus. Jeder einzelne warme Finger auf meiner Hand. Und dann waren da auch noch die Veränderungen, die ich in mir spürte. Das Kribbeln auf der Haut.
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