Artikel 5

Zimmer, also schlich ich zu seiner Tür und hörte von drinnen eine leise Männerstimme.
    »Und du bist sicher, dass du es dir nicht doch anders überlegen willst?«, fragte die Stimme.
    »Ja, im Moment schon«, sagte Chase. »Irgendwann später vielleicht.«
    Ich steckte den Kopf zur Tür herein. Chase lehnte zusammen mit Billy am Tresen des kleinen Küchenblocks, Wallace und Sean standen ihnen gegenüber.
    Seine Augen fanden meine, und für einen Moment flackerte alles um ihn herum, und da wusste ich, dass ich das, was zwischen uns geschehen war, nicht geträumt hatte. Dass es real gewesen war und dass er es auch so empfunden hatte. Ich errötete.
    Chase brach das Gespräch ab und kam zu mir. Er streckte die Hand nach mir aus, ich ergriff sie, und ich konnte das Lächeln, das bei dieser Geste in meinem Gesicht erblühte, nicht verbergen.
    »Moment mal.« Wallace grinste, und ich wusste, was kommen würde, noch ehe er weitersprach. »Du wärst in unserer Familie auch willkommen, Miller.«
    In diesem Moment sah ich das MM -Motto vor mir, so wie ich es auf dem Van gesehen hatte, der mir meine Mutter genommen hatte. So wie auf dem Haus in der Rudy Lane und auf dem Auflieger in Hinton. Ein Heiles Land. Eine Heile Familie. Wallace glaubte, man könne sich seine Familie aussuchen. Und wenn all die Stiefkinder dieses Landes sich zusammenschlossen, dann würde es vielleicht wirklich wieder heil werden.
    Draußen donnerte es. Und dann prasselte Regen gegen die verbretterten Fenster. Sean zündete eine weitere Kerze an und stellte sie hinter uns auf den Küchentresen.
    »Ich habe dir doch gesagt, das wird nichts, Wallace«, sagte Chase, und ich fühlte, wie sich die Anspannung in ihm ausbreitete.
    Er hatte recht. Ich konnte mich dem Widerstand nicht anschließen. Nicht jetzt. Aber mir gefiel nicht, dass Chase für mich sprach, und meine Brauen ruckten näher zusammen.
    Worüber hatten sie gesprochen? Zuvor hatte Chase kein Wort mit diesen Leuten gewechselt, aber nun trafen sie sich heimlich, während ich schlief? Meine Schultern ruckten etwas höher, und ich versuchte, seinen Blick zu erhaschen, aber er starrte nur Wallace an.
    »Warum hat man dich in Gewahrsam genommen?«, fragte er mich. In seiner Stimme lag durchaus Neugier, aber ich wusste, im Grunde fragte er nur, um etwas zu verdeutlichen. Er wollte mir die Ungerechtigkeit vor Augen führen, die meine Gefangennahme darstellte, in der Hoffnung, mir so einen Grund zum Kämpfen zu liefern.
    »Nicht wichtig«, kam mir Chase zuvor.
    »Artikel 5«, plauderte Sean aus. »Die Hälfte der Mädchen in der Reformschule ist deswegen dort.«
    »Gehen wir«, sagte Chase plötzlich. Versuchte er, mich zu beschützen? Irgendwie fühlte sich das nicht richtig an.
    »Krank ist das alles. Darum bin ich ausgestiegen. Wegen so einem Mist.« Wallace kratzte sich am Arm, und ich sah das Ende eines geflochtenen, schwarzen Drahts unter seinem langen Ärmel hervorlugen.
    »Sie haben die MM verlassen, weil sie Mädchen in Reformschulen schicken?«, hakte ich bedächtig nach. Das erschien mir sonderbar.
    Die Atmosphäre im Raum hatte sich total verändert. Jetzt herrschte eine gespannte, schmerzliche Stimmung.
    Chase zog mich Richtung Korridor.
    »Warte«, sagte ich zu ihm. Der Regen fiel in Wellen.
    »Er ist wegen der Exekutionen gegangen«, erklärte Billy. Ich dachte an den Schleuser in Harrisonburg. Ich wusste, wozu die MM imstande war. Mir sackte das Blut aus dem Gesicht.
    »Wen haben sie exekutiert?«, wollte ich wissen.
    »Halt den Mund«, herrschte Chase Billy an.
    »Leute, die gegen Artikel verstoßen«, klärte mich Billy mit aufmüpfiger Miene auf.
    Mir blieb das Herz stehen.
    »Das reicht, Billy!«, schnauzte nun Wallace und maß Chase mit einem harten, forschenden Blick.
    »Du weißt es nicht?« Seans Blick huschte ebenfalls zu Chase. »Ich dachte, du hättest es ihr erzählt.«
    »Kein Wort mehr«, warnte ihn Chase. Billy reckte trotzig das Kinn vor. Sean baute sich zwischen den beiden auf.
    »Nein. Redet mit mir. Bitte «, forderte ich sie auf.
    »Komm, Ember.« Chase hielt meinen Arm mit festem Griff und zog mich weg.
    »Hör auf!«, schrie ich. »Irgendjemand sagt mir jetzt, was los ist!«
    Regen. In Wellen. Der auf das Motel prasselte.
    »Leute, die gegen Artikel verstoßen, Soldaten, die unerlaubt abwesend sind. Diese Leute werden exekutiert, genau, wie Billy gesagt hat.« Sean sprach mit leiser Stimme. Chase wich einen Schritt zurück. »Sie hat ein Recht, es zu erfahren«,