Artikel 5
Und diese Lippen, diese neugierig hochgezogenen Mundwinkel.
»Hör auf, Randolph«, ächzte der andere Soldat. »Wir sind in einer Schutzzone; kein Schusswaffengebrauch. Zu weit vom Zaun entfernt. Außerdem hat sich die Direktorin doch schon gedacht, dass wir genau das hier vorfinden werden.«
Mein Mund klappte auf. Die Zeit schien vorübergehend stillzustehen. Lebte ich noch? Ich fühlte den Druck von Armen, die sich um meinen Körper schlangen, und war doch so taub, dass ich sie kaum bemerkte.
»Sag Rebecca, es tut mir leid«, flüsterte mir Sean ins Ohr. Einen Moment später hörte ich ein Scharren und ein furchtbares Krachen, als Randolph ihm brutal seinen Schlagstock über den Schädel zog. Der Hieb hallte in meinem Körper nach, als hätte er mich direkt getroffen. Entsetzt starrte ich auf die Stelle am Boden, an der Sean lag.
Renn , sagten meine Füße.
Renn, und sie werden dich erschießen , antwortete mein Gehirn.
Ich hatte keine Chance. Im nächsten Moment hatte ich eine Waffe im Rücken, und wir gingen zurück zum Wohnheim.
Stundenlang ging ich im Gemeinschaftsraum auf und ab und wartete auf den Richterspruch der Direktorin. Ich dachte daran, nach Rebecca zu brüllen, aber ich wollte sie nicht in Gefahr bringen.
Meine guten Absichten halfen wenig. Kaum war die Ausgangssperre beendet, da hörte ich schon Füße über den Korridor trappeln. Das war Teil unseres Plans gewesen. Sie sollte meine Abwesenheit melden, sobald sie erwachte.
Ihr Haar klebte am Kopf, sie war blass und hatte schwarze Ringe unter den blutunterlaufenen Augen. Sie hatte geweint. Aus Angst um Sean oder um mich. Die Vorstellung, dass sie mir echte Freundschaft entgegengebracht haben mochte, rührte mich, und zugleich fühlte ich mich zerrissen, da ich ihr Vertrauen so schwer enttäuscht hatte.
Sie sah mich, und sogleich veränderte sich ihre Miene.
»Nicht« , formte ich mit den Lippen.
»Wo ist er, Ember?«, fragte sie mit bebender Stimme und näherte sich dem schlaksigen Soldaten. Der hob sein Funkgerät. Blitzschnell schlug sie es ihm aus der Hand und trat es fort, woraufhin er eine Hand auf seinen Schlagstock legte.
»Wo ist Banks?« Die Verzweiflung in ihrer Stimme wog schwer.
»Rebecca!«, sagte ich scharf. Sie würde alles ruinieren. Sean hatte sie – und mich – geschützt, indem er so getan hatte, als wäre er mit mir zusammen. Hätte er bestätigt, dass ich fliehen wollte, dann wäre ich jetzt tot.
Andere Mädchen, Siebzehnjährige und ein paar Sechzehnjährige, die in unserem Korridor untergebracht waren, hatten inzwischen ihre Zimmer verlassen, und ein anderer Soldat drängte sie im Vorübergehen zurück.
Ich hörte das leise Klappern von Absätzen auf dem Holzboden und wusste, dass Brock gekommen war. In ihrem traditionellen Rock und einem marineblauen Pullover betrat sie das Foyer. Eine Bedienstete, eine mollige Frau, der die Furcht ins Gesicht geschrieben stand, begleitete sie.
»Was habt ihr mit ihm gemacht? Sean? Wo ist er?«, platzte Rebecca heraus, ehe die Direktorin etwas sagen konnte.
Ein weiterer Soldat war eingetroffen. Nun waren sie zu dritt, einer stand neben mir, die anderen beiden flankierten Brock. Die Atemluft kratzte in meiner Kehle.
»Sie weiß nicht, was sie redet«, wagte ich mich vor.
»Schweigen Sie, Ms Miller«, blaffte mich Brock an. »Um Sie werde ich mich gleich kümmern. Genero, rufen Sie uns Unterstützung.« In ihrer Stimme zeigte sich nicht das kleinste Zögern.
»Wo. Ist. Sean? «, fragte Rebecca ein letztes Mal mit bebenden Schultern.
»Weg«, geiferte Brock. »Genau wie Sie.«
»Sie …«
»Rebecca, nein!«, brüllte ich, als sie sich auf die alte Frau stürzte.
Die folgenden Dinge ereigneten sich rasend schnell.
Mit der Wucht einer Kanonenkugel riss Rebecca Brock zu Boden. Ich sah, wie ein Gummiknüppel hoch in die Luft gehoben wurde, um gleich darauf mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken meiner zierlichen Zimmergenossin aufzuprallen. Knochen krachten, ein schreckliches Geräusch, und ihr Schrei brach viel zu früh ab.
Bis dahin war ich wie erstarrt gewesen, aber als Rebecca geschlagen wurde, raste pures Adrenalin durch meinen Körper. Für einen Augenblick sah ich meine Mutter vor mir. Sah blaue Uniformen, Soldaten, die sie zu einem Van zerrten. Sie fortbrachten.
Mein Blickfeld verengte sich hinter den halb zugekniffenen Augenlidern. Mit all meiner Kraft griff ich den Soldaten an, der Rebecca geschlagen hatte. Ich trat, schlug und biss ihn, fühlte, wie Haut
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