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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fußraum. »Ich hab nicht mal Gepäck. Aber ich hab meinen Ausweis dabei.«
    Parker schüttelte fluchend den Kopf, diesmal heftiger. »Kommt nicht in Frage, nie im Leben! Es geht einfach nicht!«

15.
    Natürlich ging es doch und Ash hatte nie daran gezweifelt.
    In Folkestone lenkte Parker den BMW in einer Schlange weiterer Wagen über eine Eisenrampe in den Zug. Das Eurotunnel-Shuttle transportierte Autos und Lastwagen unter dem Ärmelkanal hindurch nach Calais. Die Fahrt von England nach Frankreich dauerte anderthalb Stunden, aber davon würden sie kaum mehr als dreißig Minuten im Tunnel verbringen. Das Shuttle bestand aus zahlreichen Doppeldeckerwaggons, in deren Etagen die Fahrzeuge dicht hintereinander parkten. Nachdem sich die Brandschutztore zwischen den Waggons geschlossen hatten, konnten die Passagiere in ihren Autos sitzen bleiben oder sich im Zug die Füße vertreten.
    »Ich steige nie aus«, sagte Parker, nachdem sich das Shuttle in Bewegung gesetzt hatte. Lärmend rollten sie durch eine Betontrasse in Richtung Tunneleinfahrt.
    Ash zog ihre Polaroidkamera aus dem Rucksack und öffnete die Tür. »Ich schon.«
    Während der nächsten Minuten malte sie mit ihrem lila Lippenstift erfundene Symbole auf die Stahlwände und fotografierte sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Bilder, die ihre Kamera ausspuckte, steckte sie unbesehen in den Rucksack.
    Während der Zug in den Tunnel einfuhr, wuchs ihre Aufregung darüber, dass sie sich in wenigen Minuten tief unter dem Meeresgrund befinden würde, weit weg vom Rest der Menschheit. Sie hatte England nie zuvor verlassen und es gefiel ihr, von der Oberfläche zu verschwinden und im Niemandsland zwischen den Grenzen unterzutauchen. Als sie sich zurück zu Parker in den Wagen setzte, hatte sie den Tunnel unter dem Meer bereits zu einem ihrer Lieblingsorte erkoren.
    »Was tust du mit all den Fotos?« Er deutete auf ihren Rucksack. »Da sind doch keine Alben drin, oder? Und wär’s nicht sinnvoller, digital zu fotografieren? Dann kannst du das ganze Zeug auf einem Stick speichern.«
    »Und was soll ich damit?«
    Verständnislos sah er sie an. »Aufheben. Anschauen. Was man so macht mit Fotos.«
    »Aber die sind doch nicht für mich! Ich klebe sie an die Wände von U-Bahn-Stationen und Fußgängertunneln und öffentlichen Toiletten. Ich verteile sie überall, damit irgendwer sie findet und ansieht und … ich weiß nicht, sich damit beschäftigt.« Verstand er das denn nicht? »Das ist wie Reden. Nur besser .«
    Obwohl er nickte, sah sie ihm an, dass er kein Wort davon begriff. Ohnehin hatte sie den Verdacht, dass er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Sie stellte sich vor, dass in seinem Kopf ein ständiges Für und Wider herrschte, eine permanente Diskussion über diese oder jene Sache. Jemand wie er würde vermutlich niemals mit etwas zufrieden sein.
    »Was ist mit deiner Mutter?«, fragte sie unvermittelt. »Alle reden immer nur von Royden Cale.«
    »Abgehauen, gleich nach meiner Geburt.«
    Sie dachte an ihre eigene Mutter oben in Newcastle. Ash war ihren drei Halbbrüdern nur ein einziges Mal begegnet. Seither hatte sie auch ihre Mutter nicht wiedergesehen. Das war sechs, nein sieben Jahre her.
    »Sie war Französin«, sagte Parker. »Oder ist es immer noch. Keine Ahnung, ob sie tot ist oder lebt.«
    »Hast du mal versucht, mehr über sie herauszufinden?«
    Er schüttelte den Kopf. »Als Kind bin ich von morgens bis abends durch die Wälder rund um die Villa gestreift, weil ich dachte, dass sie vielleicht wiederauftaucht. Von dort ist sie verschwunden, sagt mein Vater, von einem Tag auf den anderen.«
    »Und natürlich gibt er ihr die Schuld«, sagte Ash.
    Parker sah herüber und musterte sie, entgegnete aber nichts. Als sie ihm das Gesicht zuwandte, blickte er rasch wieder nach vorne. Auf der Rückbank des Wagens vor ihnen schlugen sich zwei Kinder.
    »Sie ist mit einem anderen Mann durchgebrannt«, sagte er nach einer Weile. »Und sie hat nichts mitgenommen, nicht mal ihren Schmuck. Wie’s aussieht, wollte sie durch nichts mehr an meinen Vater und mich erinnert werden.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Zu klein. Ich kenn sie nur von Fotos.«
    »Dann verurteil sie nicht. Ich kann mir vorstellen, was mein Vater mir über meine Mutter erzählt hätte, wenn ich ihr nie begegnet wäre.« Ash stemmte wieder die Gummisohlen ihrer Turnschuhe gegen das Armaturenbrett und blickte zwischen ihren angewinkelten Knien hindurch auf den Wagen vor ihnen. Jemand

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