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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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durchschaute. Sie beide würden die Nächsten sein, die Guignol in Libatiques Auftrag ermordete. Er verspürte keine Furcht vor dem Tod, er hatte zu oft mit einer Rasierklinge vor dem Spiegel gestanden und gedacht, wie einfach es wäre, beim nächsten Schnitt in die Haut noch tiefer einzudringen, diesmal am Handgelenk. Bis vor anderthalb Jahren hatte er fast täglich mit dem Gedanken gespielt. Er würde auch heute nicht um sein Leben betteln.
    »Wenn ich sterbe«, sagte sein Vater, »dann geht mein Talent auf Libatique über. Was davon noch übrig ist. Und erst dann! Das ist der wahre Pakt, Parker. Und vielleicht ist Talent ja gar nichts anderes als das, was die Menschen früher ihre Seele genannt haben. Ihre Fähigkeit, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Ihre Schöpfungskraft.«
    Libatiques Züge waren eine leere Oberfläche, die nicht verriet, was darunter vorging.
    »Er bindet junge Künstler an sich«, fuhr Cale fort, als wäre er Parker diese Erklärungen schuldig, »lockt sie mit Erfolg und nährt sich von ihrem Ruhm. Vor allem aber verschlingt er nach unserem Tod unser künstlerisches Potenzial, er absorbiert unsere Talente und nimmt sie in sich auf. Warum? Weil er selbst davon träumt, bedeutende Werke zu erschaffen. Er vereint in sich die Fähigkeiten von einigen der größten Künstler der Menschheitsgeschichte und sein Traum ist es, selbst zu sein wie sie.« Er musterte das Wesen vor ihnen mit einem Trotz, wie ihn nur Verzweiflung oder Wahnsinn hervorbringen konnten. »Aber Libatique ist kein Mensch, und einer wie er kann nichts Eigenes erschaffen, sondern immer nur wieder sich selbst reproduzieren. Sieh dir an, was er diesem armen Kerl angetan hat.« Er wies mit dem Kopf auf Guignol. »Diese Fratze ist sein Gesicht, eine groteske Parodie seiner selbst!«
    »Sei still!«, sagte Libatique.
    Parker blickte zu Guignol und erkannte, dass sein Vater Recht hatte: Guignols Grimmasse hatte in der Tat gewisse Ähnlichkeit mit Libatique. Doch war sie dessen Abbild in einem Zerrspiegel, eine boshafte Karikatur aus gehässigen Überzeichnungen. Die scharfe Nase, das zu spitze Kinn, die kleinen, tückischen Augen. Nichts davon fiel einem an Libatique auf Anhieb auf, doch hatte man Guignol erst einmal genauer betrachtet, erkannte man das Gesicht seines Herren als Schablone seiner Scheußlichkeit.
    Cale redete weiter, ohne sich um Libatiques Warnung zu kümmern. Vielleicht weil es die letzte Möglichkeit war. »Er kann nur sein eigenes Bild in tausend Varianten erschaffen, selbst die Kreidegesichter an den Wänden sehen aus wie er. Ob Malereien, Skulpturen, Symphonien oder sogar erbärmliche Kreaturen wie Guignol – am Ende sind sie alle immer nur sein Spiegelbild!«
    »Genug!«, befahl Libatique.
    »Und trotzdem kann er nicht aufhören, hortet immer mehr und noch mehr Talent. Dabei sind es doch gar nicht unsere Fertigkeiten, die ihm fehlen, sondern unsere Menschlichkeit .« Cale warf Libatique einen Blick voller Angst und Abneigung zu. »Und nun glaubt er, dass ich ihn betrogen habe. Dass ich mein Talent verschenkt habe, als ich aufhörte zu malen und stattdessen Unternehmer wurde. Dass ich das, was die Bezahlung für meinen Erfolg gewesen wäre, einfach vergeudet habe.«
    Libatique ließ den Stock emporzucken, bis die Spitze unmittelbar vor Cales rechtem Auge schwebte. »Du hast mir deine künstlerische Gabe versprochen, und jetzt ist nichts mehr übrig. Alles ist fort. Sieh dir doch die Bilder hier an! Kindliches Gepinsel!« Der Stock berührte nun Cales Auge. Parkers Vater wollte zurückweichen, aber Libatique ließ das nicht zu. Noch ein wenig mehr Druck und der Augapfel würde platzen wie eine Weintraube. »Statt dein Potenzial zu nutzen, hast du all deine Kraft auf zwei Dinge verwendet. Zum einen: dein lächerliches Imperium aufzubauen. Und zum anderen: mich von dir fernzuhalten.« Sein Lächeln sah zum ersten Mal durch und durch bösartig aus. »Ich habe mich gefragt, wofür du wohl den höheren Preis gezahlt hast. Aber vielleicht liegt das ja ganz im Auge des Betrachters?«
    Der Stock bohrte sich in Cales Augenwinkel. Parkers Vater versuchte seinen Kopf wegzudrehen, doch da huschte Guignol heran, bezog hinter ihm Stellung und hielt seinen Schädel mit den riesigen Klauen fest. Mit ihm wehte auch der Vanillegeruch wieder heran.
    »Nein!«, schrie Parker.
    Auch sein Vater brüllte und brachte zwischen Schmerzenslauten Worte hervor: »Ich habe ihn für dich herkommen lassen, Libatique! Er ist dein! Parker ist

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