Asche und Phönix
musste ihn aus nächster Nähe treffen. Luciens Schuss vom Fenster aus in den Hof hinab hatte ihn nur verletzt, aber nicht aufgehalten. Dazu kam die Streuung des Schrots. Wenn sie die Flinte in dem schmalen Spalt unter dem Karussell abfeuerte, würde ein Teil der Ladung durch die Fliesen und die Plattform darüber abgelenkt werden.
Zu spät. Jetzt konnte sie ihn nicht mal mehr sehen. Also weiter, vorwärts, Richtung Ausgang.
Sie hatte den Rand der Plattform erreicht und wollte sich gerade darunter hervorschieben, als er wieder auftauchte. Diesmal trat er von der anderen Seite in ihr Blickfeld, kaum mehr als eine Armlänge entfernt.
Sie zielte auf seine Beine und drückte ab.
Der erste Schuss zerfetzte seinen Unterschenkel und riss ihn zu Boden. Der zweite explodierte nur eine Sekunde später, aber Ash hörte ihn kaum, weil sie schon vom ersten fast taub war. Auch diese Ladung traf ihn, aber sie war nicht sicher, wo, weil der aufgewühlte Staub ihr die Sicht raubte.
Sie gab dem Rucksack einen heftigen Stoß und zwängte sich ins Freie.
Guignol lag auf der Seite und starrte sie durch den Pulverdampf an, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen. Gelbe Duftkissen mit Vanillegeruch waren aus seinen Anzugtaschen gefallen und hatten sich über den Boden verstreut.
Sein linker Unterschenkel lag ein Stück entfernt auf den Fliesen. Die Schrotladung hatte ihn unterhalb des Knies abgerissen, aber die Wunde blutete nicht. Das Körperglied lag da, als wäre es einer der Karussellfiguren abgefallen.
Schwankend sprang sie auf die Füße. Die Flinte lag noch unter der Bodenplatte, aber sie konnte sie nicht mehr hervorziehen, weil sie damit in seine Reichweite geraten wäre. Zumindest den Rucksack hatte sie retten können und schwang ihn sich über die Schulter. Die Jahrmarktsmelodie erschien ihr noch unwirklicher, während dieses Ding vor ihr am Boden lag, sich wand und verbog – und die Finger nach seinem abgetrennten Bein ausstreckte.
Sie musste hier raus. Wenn ihn der Schmerz einer solchen Verstümmelung nicht besiegte, wenn er nicht einmal blutete, was konnte sie da schon gegen ihn ausrichten?
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Unterschenkel heranzog, auf den Beinstumpf zu, der weißlich aus der zerrissenen Anzughose ragte. Sie beschloss, doch nicht zu der nahen Tür zu fliehen, sondern lief um das Karussell herum, zurück durch die Halle in Richtung Wohnzimmer.
Guignol war nicht allein hergekommen und derjenige, dem er diente, musste durch die Schüsse und das Getöse längst alarmiert worden sein. Sie brauchte schleunigst eine neue Waffe.
Sie riss die Wohnzimmertür auf. Vor der Glaswand zum Innenhof war es dämmerig geworden, im Zimmer war die Beleuchtung eingeschaltet. Neben der Leiche des Wachmanns auf der Glasscheibe blieb sie stehen. Guignol war mit großem Eifer vorgegangen und vermutlich war die Pistole noch da, irgendwo unter all dem Rot. Aber sie brachte es nicht über sich, die Reste zu durchsuchen. Notgedrungen entschied sie, sich den zweiten Toten draußen auf dem Gang vorzunehmen. Auch er war bewaffnet gewesen.
Sie lief den kurzen Flur hinunter zum Foyer und bog in den Seitengang. Der Leichnam lag unverändert am Boden und, ja, da steckte seine Waffe im Schulterholster, weil ihm nicht genug Zeit geblieben war, sie zu ziehen.
Sie zerrte die Automatik hervor und entsicherte sie. Kein Gefühl von Sicherheit, nicht mal Erleichterung. Die Pistole hatte auch den Wachmann nicht retten können.
Schlurfende Schritte erklangen aus dem Flur zwischen Wohnzimmer und Foyer. Sie konnte den Gang von hier aus nicht einsehen, aber sie wusste, was ihr da folgte.
Mitten im Korridor blieb sie stehen und hob beidhändig die Waffe.
36.
Parker stemmte sich mit aller Kraft gegen seine Fesseln. Vergebens. Das Klebeband, das ihn am Stuhl festhielt, gab keinen Fingerbreit nach.
Vor einer Minute war Guignol verschwunden und hatte seinen Meister mit den beiden Gefangenen zurückgelassen.
»Ist sie hier?«, fragte Libatique. Um seine nackten Füße verästelten sich feine Kreidemuster am Boden, wenn auch nicht so weitflächig wie an den Wänden.
»Sie?« Parker versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Vorstellung erschreckte.
»Das Mädchen, das in Lyon bei dir war.«
Ehe er sich eine Antwort darauf einfallen lassen konnte, stieß sein Vater ein verächtliches Lachen aus. »Sie ist nicht mehr hier. Hat eines der Motorräder am Tor gestohlen und ist auf und davon.«
Libatique sah Cale nicht an,
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