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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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richtete.
    Ohne länger zu zaudern, lief sie auf Zehenspitzen an ihm vorbei, bereit, unter seinen Händen hinwegzutauchen. Aber sie wurde weder von ihm noch von sonst wem aufgehalten. Nach drei, vier Schritten wirbelte sie herum. Jetzt konnte sie in sein Gesicht sehen, in seine blicklosen Augen, den offenen Mund. Blutfäden hingen von seiner Unterlippe bis auf die Brust.
    Es war der Mann aus dem Zwinger und sein Anblick erschütterte sie zutiefst. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Er stand da wie eine halb geschmolzene Wachsfigur, und was immer ihn auf den Beinen hielt, hatte nichts mehr mit Leben zu tun.
    Sie wollte sich abwenden und weiterlaufen, als ihr Blick auf das Foto hinter ihm am Boden fiel. Sie hatte vergessen es aufzuheben. Leicht geduckt lief sie noch einmal an ihm vorüber, enger an der Wand als vorhin. Sie pflückte das Bild von den Fliesen, wischte es an der Holztäfelung ab und steckte es zusammen mit der Kamera in ihren Rucksack. Dann schlich sie erneut los, diesmal an seiner anderen Seite vorbei.
    Als sie über die Schulter blickte, brach er in die Knie. Seine Stirn krachte auf die Fliesen, das Geräusch war laut wie ein Schuss.
    Mit einem scharfen Ausatmen lief sie ins Foyer, sah kurz zur offenen Haustür und dem weißen Rolls Royce, wandte sich aber nach links, den Gang hinunter, der ins Wohnzimmer führte.
    Dort stieß sie auf den nächsten Toten. Der Wächter lag übel zugerichtet auf dem Glasboden, unter dem die Krebse vom Grund ihres Beckens lethargisch zu ihm emporstarrten.
    Rote Fußspuren führten zu einer Tür.
    Ash horchte daran.
    Langsam drückte sie die Klinke nach unten.

34.
    Das Atelier war voller Monde.
    Royden Cale hatte Sicheln auf alle Wände gemalt, auf den Parkettboden, die Tür und sogar die Fenster. Zum ersten Mal stellte Parker fest, dass man von hier aus das Mondhaus oben auf dem Berg erkennen konnte. Selbst nach Jahrzehnten hatte die Vegetation es noch nicht gänzlich verschlungen.
    In der Mitte des Ateliers standen zwei Stühle nebeneinander. Parker saß auf dem einen, sein Vater auf dem anderen. Sie waren mit schwarzem Klebeband an die Lehnen und Stuhlbeine gefesselt.
    Guignol wartete reglos zwischen den Leinwänden voller Monde, die an den Wänden und Möbeln lehnten. Im Profil sah auch sein Gesicht mit dem langen Kinn und der gekrümmten Nase wie eine Sichel aus. Er starrte zum Fenster hinaus, als wollte er die Ruine auf dem Berg anheulen. Luciens Schrotschuss hatte ihm Teile der Haut vom Gesicht gerissen, aber die Wunden waren weder blutig noch verkrustet. Stattdessen sah es aus wie ein schlimmer Fall von Pockennarben.
    Es war noch ein vierter Mann im Raum – auch wenn er in Wahrheit womöglich noch weniger Mann war als Guignol.
    »Hast du wirklich geglaubt«, fragte Libatique, »dass es so einfach sein könnte?«
    Als Parker ihn zum ersten Mal in dem Film gesehen hatte, den sein Vater ihm vorgespielt hatte, war Libatique nicht viel mehr als eine verschwommene Gestalt inmitten des Chaos von Altamont gewesen. Die Filmcrew von Gimme Shelter hatte nichts in ihm gesehen, das sie dazu gebracht hätte, auf seinem Gesicht zu verweilen oder es heranzuzoomen. Unscheinbar und nichtssagend war er in der Menschenmasse untergegangen, und nun begriff Parker, dass es genau jene Bedeutungslosigkeit, dieses absolut Farblose war, das Libatique die Zeitalter hatte überdauern lassen.
    Parker hatte immer angenommen, dass es Ruhm und Aufsehen waren, die einen Menschen unsterblich machten. Doch vor ihm stand der lebende Gegenbeweis. Libatique war die fleischgewordene Nichtigkeit, das belangloseste aller belanglosen Gesichter in der Menge. Er war Grau auf Grau, war Glas auf Glas, und weit vom Glanz all jener entfernt, mit denen er seine Geschäfte machte.
    Er war weder klein noch groß, weder hässlich noch schön, war nicht anziehend oder abstoßend. Wenn man ihn ansah, wollte man gleich woandershin blicken, weil es nichts gab, woran der Blick sich hätte festhalten können. Ihn zu betrachten war, als versuchte man ein Stück Seife aus einem Wasserfass zu fischen: Kaum hatte man es gepackt, war es einem schon wieder entglitten.
    Libatique trug einen weißen Anzug, makellos bis auf einen Blutstropfen, der wie eine winzige Blüte auf seinem Revers leuchtete. Auch Hemd und Krawatte waren weiß. Einzig der Schal, den er sich wie ein alternder Intellektueller um den Hals gelegt hatte, war aus bordeauxroter Seide, durchwirkt mit Silberfäden. Er hatte graues Haar, das eine hohe Stirn

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