Asche zu Asche
letzten Minuten zur Seite stand, aber ich musste immer daran denken, wie sich Muskelgruppen verkrampften und wie man Leichname sezierte.
Sterben. Cyrus lag im Sterben. In genau diesem Moment, während ich ihn berührte, ging er immer weiter von mir weg, mit jeder Sekunde. Es gab nichts, was ich tun konnte.
„Ich muss … dir sagen … ich weiß, wo er ist.“ Er hustete, und ein Schwall Blut trat aus seinem Mund. Ich war erstaunt darüber, dass er immer noch mehr Blut verlieren konnte.
Dann konnte er nicht mehr sprechen. Obgleich er noch atmete, rollten seine Augäpfel nach innen.
Ich war allein mit einem sterbenden menschlichen Wesen, an einem Ort, an dem ich mich nicht auskannte. Meine Unsterblichkeit fühlte sich falsch und nach Verrat an. Was meine Menschlichkeit anging, so hätte ich ebenso gut einWasserhahn in seinem Bad sein können.
Ich brauchte Nathan. Ich brauchte ihn dringend. Ich krabbelte ins Nebenzimmer zum Telefon, denn solange ich nicht aufstand und wegging, verließ ich Cyrus nicht, so schien es mir. Als ich die Ziffern eingab, zitterten mir die Hände.
Nathan ging sofort nach dem ersten Klingeln dran. „Carrie, was ist los?“
Ruhe strömte durch die Blutsbande durch mich hindurch. Er spürte meinen Schock und meine Trauer, er hatte nur darauf gewartet, dass ich ihn um Hilfe bitte.
„Er ist tot. Oder fast.“ Mir liefen die Tränen aus den Augen, und ich bekam einen Schluckauf von den Schluchzern, die ich versuchte zu unterdrücken. Ich hatte kurz den Gedanken, dass es falsch von mir war, Nathan gegenüber so offen um Cyrus zu trauern, wenn ich mir überlegte, was zwischen ihnen in der Vergangenheit vorgefallen war. Aber ich verwarf diese Schuldgefühle. Gleichgültig, welche Fassade ich Nathan gegenüber aufrechterhalten würde, er spürte meine wahren Gedanken und Gefühle ohnehin. „Oh Gott, Nathan. Er stirbt!“
„Was ist passiert? Kannst du noch etwas für ihn tun?“ Als ich hörte, dass Nathan aufrichtig besorgt war, traten mir noch mehr Tränen in die Augen. „Soll ich den Erste-Hilfe-Koffer mitbringen?“
Ich starrte meine mit Blut besudelten Kleider an und spürte, wie mir die Galle hochkam. Ich schloss die Augen. „Ich kann nichts mehr für ihn tun.“
Es sei denn …
Nathan hielt hörbar die Luft an.
„Vergiss es, ich habe auch schon daran gedacht. Vergiss es einfach.“ Ich brachte die Worte so schnell hervor, als wollte ich meine Gedanken davon abhalten, diese Idee zu verfolgen.
„Carrie …“, bat Nathan mit belegter Stimme.
Ich wollte den Hörer wieder auflegen und einfach verschwinden von diesem Ort, an dem ich diese furchtbare Tat begehen würde. Es wäre das Vernünftigste gewesen, aber stattdessen hörte ich nicht auf zu reden. „Er weiß etwas. Er weiß, wo der Souleater ist, aber er konnte es mir nicht sagen.“
„Wir werden einen anderen Ausweg finden …“
„Er stirbt!“ Ich hielt den Hörer so fest in meiner Hand, dass ich hörte, wie das Plastik zerbrach.
Die Stille schien kein Ende nehmen zu wollen. Ich wusste nicht, ob Cyrus überhaupt noch am Leben war. Das Gespräch hätte schon lange sinnlos gewesen sein können.
„In einer Minute bin ich mit dem Verbandszeug bei euch.“ Nathans Stimme klang angespannt und müde. Die bedrohliche Stille wurde durch ein tiefes Stöhnen durchbrochen: „Bitte tu nichts, bis ich da bin!“
Aber es war schon viel zu spät. Der Keim eines bösen Gedankens war gesät, und ich wollte dafür sorgen, dass er Früchte trug.
„Es tut mir leid, Nathan.“ Zitternd legte ich auf und erhob mich langsam. Jeder Schritt in Richtung Badezimmer schien mich mehr Energie zu kosten als der letzte, als würde ich immer weiter ins Meer hinauswaten. Als ich schließlich bei Cyrus angekommen war, wusste ich, dass ich nicht zögern durfte. Er war so kurz davor, erlöst zu werden, dass ich den Engel spüren konnte, der mit uns im Raum war.
„Tut mir leid, dass ich dich mit leeren Händen zurückschicken muss“, murmelte ich und rollte einen Ärmel hoch. Auf dem Waschbecken standen ein Zahnputzbecher und ein Rasierer. Ich zitterte so stark, dass ich beides auf den Boden warf, als ich danach griff.
Durch den Krach und dadurch, dass ich mich über ihn beugte und ihn berührte, kam Cyrus wieder zu Bewusstsein. Ich sah, wie er mein Gesicht betrachtete. Er bewegte seineLippen, ohne einen Ton hervorzubringen, während sein Gehirn die Informationen zusammensetzte. Er verstand.
Es gelang ihm, ein Wort auszusprechen.
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