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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Lüster und Farben, die sie blendeten und faszinierten wie ein Licht die Motten.
    Tjamad beugte sich zu dem Sterbenden hinunter, doch als ihre Lippen nur noch wenige Fingerbreit von seinem Mund entfernt
waren, zögerte sie. Etwas vibrierte in der Luft und schwang in ihr nach, berührte sie so sehr, dass sie weinen und lachen wollte. Ein … Ton? Nein, der Nachklang von mehreren Tönen, die eine Harmonie bildeten. Sie hielt inne und verstieß gegen das erste Gebot der Zorya: Keine Fragen.
    »Was ist das?«, fragte sie den Sterbenden.
    »Musik«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Und Tanz. Das ist das Leben.« Und er flehte: »Lass mir nur noch einen Moment! Lass mich nur noch dieses eine Lied hören.«
    Und als sie nickte und damit gegen das zweite Gebot der Zorya verstieß, begannen die Tänzer sich wieder zu bewegen, und die Musik überschwemmte Tjamad mit einer leuchtenden Kaskade von Tönen und nie gekannten Empfindungen, Licht tanzte auf den Blütenblättern von Rosen und Winterastern. Der Duft überwältigte sie und der Klang der Melodie füllte sie ganz und gar aus. Wie leer muss ich sein, um all das zu fassen?, dachte sie. Und sichtbar geworden, trat sie unter die Tanzenden. Die Menschen wichen vor ihr zurück. Wie fehl am Platz sie hier wirken musste - ein Mädchen mit offenem Haar im schwarzen Gewand, barfuß. Den Flügelmantel sahen die Sterblichen nicht und sie spürte sein Gewicht nicht mehr, während sie mitten in die Klänge schritt.
    Die Gesichter im Festsaal ihrer Erinnerung waren ebenfalls nur Flecken. Die Szene verwischte. Summer zog die Brauen zusammen. In ihrem Inneren schien sich eine Feder zu spannen, schmerzhaft stark, als versuchte sie mit aller Gewalt etwas zurückzuhalten. Ihr Kopf schmerzte.
    Doch Lady Mars Finger drückten sich mitleidlos wie Knochenzangen in ihre Schultern. »Erinnere dich! Was geschah dann?«
    Summer rang nach Luft und tauchte wieder in die Bilder ein.

    Zeit musste vergangen sein. Als sie zu dem Bett des Sterbenden zurückkehrte, war sie atemlos und glücklich, als hätte sie tatsächlich getanzt. Voller Sehnsucht blickte sie zurück in den Saal, da hustete der Kranke und bat mit schwacher Stimme: »Schenk mir nur einen Tag, Herrin. Küss mich morgen. Und ich zeige dir alle Musik, den Tanz. Das Leben und das Licht, ich schenke es dir!«
    Das Erschrecken war wie ein Eishauch, der sie zittern ließ. »Nein«, murmelte Summer. »Das kann ich nicht getan haben! Ich kenne die Regeln. Ich hätte doch nie …«
    »Scht! Zeig mir, was war!«
    »Einen Tag!«, sagte die Zorya am Thronbett mit herrischer Stimme.
    Entsetztes Flüstern wallte auf, ein Zischen wie von Schlangen. Und ein Schwirren wie von Tausenden von Flügeln. Summer keuchte und riss die Augen auf. Hilfe suchend blickte sie über Lady Mars Schulter und sah Beljéns blasses Gesicht. Riesengroß waren ihre Augen und die Hände hatte sie vor den Mund geschlagen. Ein Abbild des Schreckens, den sie selbst gerade fühlte. Sie stand vor einem Tribunal! Und verhandelt wurde über ihre Verfehlung. Anzej biss sich auf die Unterlippe. Und sie verstand, warum er mit seinen Küssen und seiner Nähe den Schleier über ihre Gedanken gezogen hatte. Hätte sie sich erinnert, was sie getan hatte - niemals wäre sie ihm gefolgt.
    »Ganz wie ich es mir dachte«, sagte Lady Mar. Und jetzt bebte ihre Stimme vor Zorn. »Und jetzt gib mir das Geheimnis, das du immer noch vor mir zu verbergen suchst. Sag mir, was danach geschah!«

    Der Kuss der transparenten Lippen auf ihrer Stirn brannte wie weiße Glut. Summer keuchte auf, wand sich im Griff der Todesfrau, bis ihre Beine unter ihr nachgaben. Doch Lady Tod ließ sie nicht los. Gemeinsam sanken sie auf die Knie. Blinzelnd sah Summer aus dem Augenwinkel die Spiegelung; eine schwarze Gestalt mit rotem Haar und Knochenhänden, die wie eine dunkle Mutter ein zusammengesunkenes Mädchen aufrecht hielt, als wollte sie es nur liebevoll stützen. Summers Körper war willenlos, doch das Mädchen aus Maymara, das immer noch ein Teil von ihr war, stemmte sich mit aller Macht gegen das suchende Tasten fremder Gedanken und hielt die Tür einer verborgenen Kammer mit aller Kraft zu.
    »Ich ließ ihn einen Tag am Leben. Und dann noch einen«, flüsterte Summer. »Ich fragte ihn nach seinem Namen und er sagte, er heiße Tors, doch seine Freunde nannten ihn Indigo - weil er die blauen Indigofalter liebte, die im Mai im Nordland zu finden sind. Es war schon fast Winter und ich hätte diese Falter so

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