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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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ich ihn?
    »Tötet mich nicht.« Noch während sie diese Worte flüsterte, wurde ihr klar, dass sie wieder wie ein Mensch sprach. Obwohl sie nur zu deutlich spürte, dass sie immer noch eine Zorya war. Und dass der Tod nicht die schlimmste Strafe wäre. Viel mehr fürchtete sie sich davor, von den anderen verstoßen zu werden. »Ich habe das Gesetz gebrochen, ich habe mich betrügen lassen, aber ich wollte nicht …«
    »Du hast Schlimmes durchgemacht«, unterbrach Lady Mar sie mit erstaunlich sanfter Stimme. Stoff raschelte, dann strich die Hand im Samthandschuh liebkosend über ihr Haar. »Hab keine Angst mehr, Tjamad. Ich verzeihe dir. Du bist hier in Sicherheit.«
    Das Schluchzen stieg ganz von selbst in Summer auf und schüttelte sie. Beruhigend legte Lady Mars Hand sich auf ihre Stirn. Durch den Samtstoff hindurch fühlte Summer, wie gletscherkalt und knochig die Finger waren, doch ihre Berührung war tröstlich und warm. »Wie sehr bildest du dir ein, menschlich zu sein, dass du sogar glaubst, Fieber zu haben?«, fragte Lady Mar verwundert. »Du bist eine Zorya. Gewöhne dich wieder daran.«

der innere zirkel
    K eine Gemeinschaft der Menschen hatte sie jemals auch nur annähernd so umfangen gehalten wie die Zorya. Selbst die Theatertruppe war nur ein Abglanz der Nähe gewesen, die sie jetzt erlebte. Es war, als hätte ihre Haut sich aufgelöst und sie würde den Pulsschlag jeder anderen Zorya so spüren wie ihren eigenen. Es gab kein Sein, das völlig getrennt von den anderen existierte, nur ein Wir. Keine Zorya benötigte einen Raum nur für sich selbst, wie es bei Menschen üblich war. Manche schliefen zu zweit oder zu dritt nebeneinander und ihre Flügelmäntel überlagerten einander. Ganz selbstverständlich ließ Summer sich fallen und wurde zu einem Teil dieses riesigen, pulsierenden Schwarms, der keine Grenzen und keinen Streit kannte. Hände strichen ihr über Wangen und Stirn und der Dämmerschlaf, in den sie mehrere Tage immer wieder verfiel, war erholsam und heilend. Gemeinsam mit so vielen anderen lag sie in einem riesigen runden Raum im Zentrum der Zitadelle. Wie der Altarraum des heiligen Styx hatte auch er glatte Glaswände. Nur waren sie nicht verspiegelt, sondern matt und fensterlos. Lediglich das Licht der zweiten Wirklichkeit erhellte sie.
    Sobald Summer ins Bewusstsein zurückdämmerte, sah sie die anderen Zorya im Raum. Wie sie selbst, schliefen auch sie nicht
in Betten, sondern auf blanken Marmorblöcken, bedeckt nur von ihren Mänteln und schwarzen Laken aus Seide. Hier trugen sie keine Masken, denn das nördlichste Haus der Zitadelle wurde der Innere Zirkel genannt und gehörte nur den Zorya. Es gab Stunden, da befand sich außer Beljén und Summer niemand im Raum, aber meistens war sie von der tröstlichen Gegenwart der anderen umgeben. Es waren nicht immer dieselben Zorya, denn ihr Schlaf- und Wachrhythmus folgte nicht der Nacht oder dem Tag, sondern dem Rhythmus ihrer Aufgabe. Ein Todeskuss erschöpfte sie, danach schliefen sie, ansonsten waren sie wach. Manche Zorya sah Summer zwei oder drei Tage nicht, dann kamen sie in den Ruheraum zurück, legten Masken und menschliche Kleidung ab und schliefen so tief, dass kein Atem zu hören war.
    Summer lernte, dass sie keine Nahrung benötigte. Sowohl der Hunger als auch das Frieren waren eine Illusion gewesen, der sie bereitwillig gefolgt war, im Glauben, ein Mensch zu sein. Nur das Fieber, das sie tatsächlich glühen ließ, konnte sich niemand erklären. Beljén flößte ihr einen Trank ein, der zwar nach Asche und viel zu altem Wein schmeckte, sie jedoch stärkte. Es war, als würde ihre Wunde am Rücken erst jetzt verheilen, nur der Schmerz des Verlustes blieb und flackerte jedes Mal wieder auf, wenn Beljén oder eine der anderen Zorya für einen Moment verblasste, um nach ihrer Reise wieder aufzutauchen.
    »Ist es bei uns immer so erschreckend ruhig?«, murmelte Summer, als sie einmal aus einem Traum von Schmetterlingen und Eintagsfliegen erwachte. In der absoluten Stille hörte sich ihre Stimme unnatürlich laut an.
    »Erschreckend ruhig?«, fragte Beljén verwundert. »Es ist nur nicht unerträglich laut und chaotisch wie bei den Menschen.«
    Summer schloss die Augen wieder und ließ sich auf den Stein
zurücksinken. Nun, in diesem einen Punkt hatte Anzej nicht gelogen: Die Zorya kannten keine Musik. Keine Lieder, keine Farben, keine Vergnügungen. Alles war nüchtern und jeder sprach gedämpft und bewegte sich ohne einen Laut.

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