Ascheherz
Lediglich wenn sie einander von den Leben erzählten, die sie den Menschen genommen hatten, wisperten ihre Stimmen wie ein unendlicher murmelnder Fluss. Doch selbst dann hörte Summer keine Sehnsucht heraus, keine Leidenschaft, allenfalls Verwunderung.
Früher war das alles, was ich wollte , dachte sie. Früher hat es genügt.
Es war paradox, aber so glücklich sie war, zu Hause zu sein, so sehr sehnte sie sich flüchtig auch nach den Kaschemmen, nach wüstem Streit und lautem Lachen und sogar nach der Gefahr. Und da war immer noch der Kuss des Blutmanns, das Geheimnis, das sie selbst vor Beljén sorgfältig verbarg.
»Singst du mir etwas vor?«, bat sie Beljén, als diese unvernünftige Sehnsucht sie wieder einmal übermannte.
Aber Beljén schüttelte entschieden den Kopf. »Die Lieder haben dich deinen Mantel gekostet und deine Unsterblichkeit. Deine Wunden heilen zwar schneller als bei den Menschen und schmerzen weniger, aber dein Flügelmantel schützt dich nicht mehr. Wenn eine Kugel dein Herz trifft, dann stirbst du wie ein Mensch. Und alles wegen ein bisschen Menschenmusik!«
»Daran haben aber die Lieder keine Schuld, Beljén. Wir können singen, ohne dass wir dadurch in Lebensgefahr geraten, und es tut niemandem weh, wenn wir ein bisschen fröhlich sind, glaub mir!«
Ihre Freundin sah sich nach den anderen Zorya im Raum um und seufzte. Dann beugte sie sich vor und sagte kaum hörbar:
»Du hast dich wirklich nicht verändert. Damals hast du dir jedes
Lied gemerkt, das die Sterbenden vor sich hin gesummt haben. Die meisten Lieder waren traurig, aber dich faszinierten sie. Du hast sie mir heimlich zugeflüstert.«
Summer lächelte. »Ja, ich erinnere mich.«
»Du hast dich sehr für die Menschen interessiert.«
»Du doch auch, Beljén! Du warst diejenige, die sich auf ein Fest dieser Königin geschlichen hatte und später versucht hat, mir zu zeigen, was ein Tanz ist.«
»Scht! Nicht so laut, Tjamad.« Aber dennoch konnte sich nun auch ihre Freundin ein Lächeln nicht verkneifen. »Und du wolltest tatsächlich wissen, wie es ist, zu altern«, wisperte sie mit blitzenden Augen. »Mit Ruß hast du mir Falten ins Gesicht gezeichnet.« Schlagartig verschwand ihr Lächeln wieder, als hätte ein plötzlicher Gedanke es ausgelöscht wie ein kalter Luftzug eine Kerzenflamme. Sie schluckte schwer und blickte auf ihre Hände. »Damals war alles anders, Tjamad. Wir dachten, wir seien unverletzlich und unangreifbar.«
Da war er wieder. Indigo. Niemand hatte in den letzten Tagen seinen Namen ausgesprochen oder ihr Vorwürfe gemacht, und dennoch spürte Summer, wie alle Zorya im Raum sich zu ihr umwandten. Die Schuld senkte sich wieder wie eine Last auf ihre Seele. »Ich weiß«, erwiderte sie laut und deutlich. Sie blickte von Gesicht zu Gesicht. Manche von ihnen gläsern wie das der Lady, andere so menschenähnlich, dass nur die Flügel sie verrieten. Und manche changierten zwischen beiden Erscheinungsformen hin und her. Aber unter all den Zorya keine einzige feindselige Miene, kein böser Blick. Im Gegenteil, das Mitgefühl umgab sie und beschämte sie. Plötzlich brannten ihre Augen wieder vor Fieber und Beljén legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie sacht zurück auf den Stein. »Ruh dich aus und werde gesund.
Lady Mar will, dass du wieder ganz zu dir kommst und dass deine Wunden heilen. Alles andere wird sich finden.«
Summer nickte benommen und legte sich auf die Seite. Es tat gut, die heiße Wange am Stein zu kühlen.
»Wie viele gibt es von uns, Beljén?«, murmelte sie. »Ich habe siebzig gezählt. Aber es sterben doch so viele Menschen, jeden Tag, jede Stunde …«
Immerhin war es ihr mit dieser Frage gelungen, Beljén wieder zum Lachen zu bringen. Ihre Freundin schüttelte mit einem missbilligenden Schnalzen den Kopf, als sei Summer ein unverständiges Kind. »Da hätten wir auch wirklich viel zu tun! Natürlich sind das nicht alle Zorya. Nicht einmal ein Bruchteil davon! Es gibt unzählige von uns. Wie viele, weiß wohl nur die Lady allein. Die meisten erwachen nur für einen einzigen Todeskuss und erlöschen danach wieder. Andere existieren länger und werden für mehrere Tode gerufen. Nur den wenigsten gibt Lady Mar eine unsterbliche Existenz. Wir hier«, sie umfasste mit einer anmutigen Geste die Gestalten im runden Zimmer, »sind diejenigen, mit denen Lady Mar sich umgibt. Sie hält sich gerne unter Menschen auf, sie ist mit uns zu Gast bei Königen und Lords, und manchmal
Weitere Kostenlose Bücher