Ascheherz
Loveds Profil, seinen traumweichen Mund, der leicht zu lächeln schien. Er erwachte nicht, als sie sich an ihn drängte und ihr Gesicht in seiner Halsbeuge vergrub, aber wie immer umarmte er sie wie ein Schlafwandler und zog sie an sich. Einige der Felle waren verrutscht und ihr rechter Fuß lag auf glattem Elfenbein. Hier hat es begonnen , dachte sie. Genau in diesem Bett, nach unserer ersten gemeinsamen Nacht, habe ich beschlossen, dass ich ein Mensch sein will und nicht zu den Zorya zurückkehren werde.
Ein Totenkopfschwärmer kletterte über ihren Arm. »Raus hier!«, wisperte sie und alle Falter flatterten erschreckt hoch und verblassten. Jetzt umhüllte sie die Dunkelheit einer menschlichen Nacht. Aber das Schlimme war, dass sie sich immer noch - oder wieder? - wie eine Zorya fühlte. In der Schwärze sah sie Beljén, Halimar, Wij und all die anderen.
Gestohlene Zeit. Davon leben wir beide, Indigo und ich.
Noch nie hatte sie es sich eingestanden, aber sie und Indigo waren gar nicht so verschieden. Wir beide haben alles dafür getan, um Lady Tod zu betrügen.
Loved spürte ihre Unruhe und regte sich. Im Halbschlaf strich seine Hand über ihr Haar. »Was ist, Frostfee?«, murmelte er. »Kannst du wieder nicht schlafen?«
»Doch. Ich habe nur … schlecht geträumt. Schlaf weiter.«
Und Loved und ich werden immer Fliehende sein, gefangen in der Unsterblichkeit.
Das Schlimme am Zweifel war, dass er sich anschlich wie eine Schneekatze und dann umso fester zupackte.
Während sie an Loved geklammert dalag und seinem Atem lauschte, versuchte sie sich eine Welt ohne Tod vorzustellen. Versuchte zu ergründen, wie es den Unsterblichen ergehen würde. Nicht heute, aber in hundert Jahren, oder in zweihundert. Wenn eine Zorya nach der anderen verschwand. Und die Menschen zu den neuen Göttern geworden waren. Obwohl es wehtat, an ihre Freundin zu denken, stellte sie sich vor, wie Beljén verletzt und sterbend dalag. In der Einsamkeit, die die letzte Stunde der Zorya so schrecklich machte. Und dann sah sie Loved vor sich, wie er aufwachte in einem leeren Bett. Bei dieser Vorstellung fühlte sie sich menschlicher denn je.
Sie wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, aber es musste sicher schon Mitternacht sein, als sie den schlafenden Mund ihres Geliebten küsste und aufstand. »Träum weiter«, flüsterte sie ihm mit der Stimme der Zorya zu. »Ich liebe dich, Loved!«
Der betäubende, frische Duft der Eisblüten umwehte sie und der Schnee drückte sich zwischen ihren Zehen hindurch, als sie zum mondbeschienenen Plateau schritt.
Anzej saß dort mit dem Rücken zu ihr im Schnee und blickte aufs Meer hinaus. Er sah aus wie eine Märchengestalt. Sein Flügelmantel umgab ihn und schien mit dem Flirren des Schnees zu verschmelzen. Winterwind strich ihm durch das Haar. Sie setzte sich neben ihn. So verharrten sie lange Zeit und betrachteten den Horizont. Nach und nach kehrten ihre Totenkopffalter zu ihr zurück, wagten sich in ihre Nähe, bis sie Summer schließlich wieder umgaben. Sie wusste, dass Anzej ebenfalls von einem Schwarm begleitet wurde, der nur ihm gehörte.
»Nein, es sind keine gewöhnlichen Libellen«, sagte er, ohne dass sie die Frage gestellt hatte. »Sondern Königslibellen, grün und türkis, mit durchsichtigen Flügeln. Wusstest du, dass viele Menschen sie für Boten der Unsterblichkeit halten?«
Summer lächelte, obwohl ihr Herz schwer wurde.
»Hast du wirklich nie gezweifelt? Kam dir nie der Gedanke, dass du mich retten oder verschonen könntest? Kein einziges Mal, Anzej?«
Er seufzte. »Oh doch. Auch wenn du es mir vielleicht nicht glaubst. Ich habe gelitten und ich habe mehr als einmal daran gezweifelt. An dem Abend, bevor wir aufs Schiff gingen, hätte ich dich beinahe endgültig gehen lassen. Auf eine Art liebte ich dich. So wie ein Zorya lieben kann.«
»Das war nicht genug!«, stieß sie hervor.
Jetzt erst wandte er den Kopf. Seine Augen glühten, Flügelschatten unsichtbarer Libellen huschten über seine Stirn.
»Ich habe dich nur nicht wie ein Mensch geliebt. Mach mir das nicht zum Vorwurf. Ich bin, wer ich bin, Tjamad. Ich wollte niemals menschlich sein. Selbst dann nicht, als ich mich mit Lady Mars Erlaubnis wie ein Mensch unter ihnen bewegt habe. Und wie ich es drehe und wende, es gab keinen anderen Weg für dich
und mich. Es war deine Entscheidung, Lady Mar zu betrügen. Ich war dein Sucher. Und du hast gegen unser Gesetz verstoßen.«
Seine Stimme klang bei diesen
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