Ascheherz
sie nach einigem Zögern. »So heiße ich zwar nicht, aber das spielt keine Rolle. Weil ich meinen richtigen Namen gar nicht kenne. Und weil wir uns ohnehin nie wiedersehen.«
Mit einem Mal wurde ihr die ganze Absurdität der Situation bewusst. Hier stand sie, schon mit einem Bein auf der Flucht, äußerlich bereits ein neues Ich, und sprach mit einem Wildfremden, der erstens nackt war, sie zweitens nichts anging und drittens ihre Sprache gar nicht verstand. Doch dann machte er ihren ganzen Widerstand mit einem Wort zunichte.
»Summer«, wiederholte er leise. Und plötzlich war das alte Badezimmer kein schimmeliges Loch mehr, die Wirklichkeit begann zu fließen. Bilder trennten sich zitternd und überlagerten sich wieder. Ihr altes Ich schimmerte im Raum, der Duft von Theaterschminke,
der Flügelschlag der zahmen Pirole und Anas Lachen.
Für einen irrealen Moment kämpfte sie gegen den Impuls an, Anzejs Hand zu nehmen und ihm alles zu erzählen. Sie brauchte ihre ganze Willenskraft, um sich von ihm abzuwenden.
»Ich muss gehen. Viel Glück!« Sie stemmte das Fenster auf, warf die Tasche in die Rumpelkammer und wollte hinterherklettern. Doch natürlich versuchte er, sie zurückzuhalten. Sie wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, dass er sie begleiten wollte. Vielleicht, weil ich mir so sehr wünsche, nicht mehr einsam zu sein? Kühl lag seine nasse Hand auf ihrer Schulter, doch sie schüttelte sie ab.
»Nein, ich gehe allein!«, fuhr sie an ihn. »Ja, ich weiß, du bist auch allein. Aber ich kann dir nicht helfen!« Er sagte nichts, betrachtete sie nur, und diesmal konnte sie in seinen Augen nicht lesen. »Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin!«, fuhr sie hitziger fort. »Und außerdem … wäre ich heute Nacht beinahe ermordet worden. Wenn du mit mir gehst, bist du vielleicht der Nächste, willst du das? Ich kann dich nicht brauchen, du würdest mir nur Ärger machen. Wasch dir den Staub ab und such dir ein paar Kleidungsstücke. Und dann musst du schon selbst sehen, wo du bleibst.«
Sie vermied es, ihn anzusehen, während sie durch das Fenster kletterte. Er folgte ihr nicht, nur das Wasserrauschen begleitete sie auf ihrem Weg nach draußen. Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber während sie die Treppen hinuntereilte, brach das Schluchzen aus ihr heraus - und mit dem Schluchzen alle Tränen, die sie in ihrem Katzenleben nicht geweint hatte.
»He, brauchst du Trost, graue Maus?«, rief ihr irgendein abgerissener Kerl hinterher. Summer antwortete ihm nicht. Natürlich fiel ein Mädchen auf, das in Tränen aufgelöst durch die Straßen eilte, aber sie konnte nicht anders, als hemmungslos zu heulen. Schließlich drückte sie sich in einen Türeingang und wartete, bis sie ruhiger wurde. Die Tränen ließen sich schließlich abwischen, nicht aber das Gefühl, nicht nur Finn, sondern auch diesen Anzej im Stich gelassen zu haben. Und dennoch: Hier, im Tageslicht und inmitten von Menschen, deren Sprache sie verstand, kam es ihr vor, als sei der Fremde in der Kammer gar nicht real gewesen. Einen Moment zweifelte sie tatsächlich daran, ob er nicht nur ein weiteres Bild aus ihrem Traum gewesen war - ein Schwanenbett, wunderschöne Raupen und ein nackter Fremder, dessen Berührung mich nicht in die Flucht schlägt .
Sie griff in ihre Tasche und zuckte zusammen, als sie ihre abgeschnittenen Haare zwischen den Fingern spürte. Doch dann fand sie, was sie suchte, ein schlichtes Tuch, unter dem sie hastig ihr kurzes Haar und die Platzwunde verbarg. Jetzt entsprach sie dem Bild einer Saisonarbeiterin vom Hafen vollkommen. Sogar die Tatsache, dass sie barfuß lief, passte dazu. Zeit für dein neues Leben . Hör endlich auf zu heulen und geh!
Unwillig wischte sie sich mit dem Ärmel über die Nase und setzte sich in Bewegung - in Richtung Westen, zum alten Verladebahnhof. Während sie lief, suchte sie nach einem Gang, der ihrer neuen Rolle entsprach, feste, raumgreifende Schritte, der Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, der Blick zu Boden gewandt, so als würde sie jeden Tag Lasten tragen und müsste mit ihren Kräften ebenso sparsam umgehen wie mit ihrem Stolz. Jetzt brauchte sie nur noch einen neuen Namen. Taja? Ja, das klang unauffällig genug. Der Wind, der von der Seeseite kam, riss an ihrem Kopftuch.
Er roch heute sehr unangenehm, nach öligem Rauch und verkohltem Holz. Summer hasste Rauchgeruch, aber dennoch musste sie den Wunsch unterdrücken, noch einmal in Richtung Hafen zu laufen, um einen letzten
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