Ascheherz
Mann, doch im selben Atemzug entfaltete sich etwas anderes, eine Überlagerung, ein Schleier, etwas Schillerndes am Rande des Sichtfeldes. Ein Blick durch den Vorhangspalt ihrer Traumwelt. Sie bildete sich tatsächlich ein, aus den Augenwinkeln die Bewegung der Raupen an den Wänden wahrzunehmen. Was ist gestern nur passiert? Alles ist anders …
Dann holte der Anblick des Fremden sie wieder zurück: Seine Hände mit den langgliedrigen, schlanken Fingern. Selbst in Handschuhen hätten sie keinerlei Ähnlichkeit mit den Händen des Blutmannes gehabt. Und Summer staunte selbst, wie erleichtert sie darüber war. Sein Mund wirkte sanft und schien lächeln zu wollen, aber die Lippen waren verkrustet von Staub. Und - er trug überhaupt keine Kleidung! Das, was sie für groben grauen Stoff gehalten hatte, war ebenfalls eine Schmutzschicht. Sein ganzer
Körper und auch das Haar waren davon bedeckt. Ihr Blick wanderte unwillkürlich nach unten. Er war tatsächlich nackt. Und als sei er sich dessen nicht bewusst, trat er jetzt über die Türschwelle in das Zimmer.
»Halt!«, rief sie und riss das Messer hoch. Sie schielte zu dem Stuhlbein, doch es lag zu weit weg. Bitte bleib stehen! Ich will dich nicht verletzen! Was soll ich machen, wenn du näher kommst?
»Bleib, wo du bist!«, fauchte sie. »Wer bist du? Was hast du hier verloren?« Heute war sie nicht überzeugend. Es klang genau nach dem, was es war: schlecht improvisierter Theatertext.
Zögernd blieb der Fremde stehen und betrachtete sie mit einem fragenden Interesse. Er neigte den Kopf, als würde er einem noch nie gehörten Klang nachlauschen. Dann seufzte er und wischte sich nachdenklich mit dem Handrücken über die Stirn. Doch schließlich teilten sich seine Lippen zu einem zaghaften Lächeln. Staub knirschte und rieselte.
»Tjamad?«, fragte er. »Ni lanja sur!«
Seine Stimme hatte einen dunklen Klang und die Sprache eine weiche Melodie, die etwas in ihr zum Klingen brachte. Kannte sie diese Sprache? Doch wie immer blieb das Tor zur Festung ihrer Erinnerungen verschlossen.
Summer schluckte. »Du … verstehst mich also gar nicht?«
Sein Schulterzucken war wohl eher eine Reaktion auf ihren fragenden Tonfall. Ratlos betrachteten sie einander eine Weile. Sein Mienenspiel wechselte abrupt zu Bestürzung, als er ihre Wunde entdeckte.
Er wäre jedenfalls kein guter Schauspieler , dachte Summer. Er kann sich nicht besonders gut verstellen. Oder verstellt er sich viel zu gut?
Ohne auf das Messer in ihrer Hand zu achten, trat er auf Summer
zu, vier Schritte, fünf, und sie wich zurück, völlig irritiert und auf eine Weise entwaffnet, die sie einschüchterte. Wehr dich! Schrei ihn an! Treib ihn zurück!
Dann stieß sie mit dem Rücken schon gegen die Wand und der Fremde stand kaum eine halbe Armlänge entfernt vor ihr. Sie musste das Kinn heben, um ihm in die Augen sehen zu können. Ihre Knie waren so weich, dass sie fürchtete, einfach an der Wand nach unten zu rutschen. Der Messergriff drückte gegen ihren Daumenballen, und auch ohne hinzusehen, wusste sie, dass sie die Spitze des Messers direkt an die weiche Stelle unter seinem Brustbein hielt. Eine unachtsame Bewegung, und sie würde ihn verletzen. Doch seltsamerweise schien sie sich weitaus mehr davor zu fürchten als er.
Der Fremde betrachtete sie offenbar nicht als Gefahr, sonst hätte er nun sicher nicht die Hand nach Summer ausgestreckt. Die Behutsamkeit der Geste überrumpelte sie so sehr, dass sie sich nicht wehrte, als seine Fingerspitzen ihr Gesicht berührten. Schwindel erfasste sie. Die Zeit lief plötzlich langsamer und schneller zugleich. Sie biss die Zähne zusammen und hoffte, sie würde nicht wieder die Wirklichkeit verlieren, nicht hier. Warum lasse ich das zu? Aber sie spürte dem Gefühl nach, das die Berührung in ihr wachrief: ein wehmütiges Ziehen, und gleichzeitig diese schreckliche Leere. Und mit einem Mal verstand sie, warum sie sich so einfach hatte einreden können, in Finn verliebt zu sein. Dieses Schweben in ihrer Brust, die Sehnsucht, all das fühlte sie tatsächlich. Nur dass diese Überreste einer Regung aus ihrer Vergangenheit stammten und gar nicht zu Finn gehörten. So als wäre sie irgendwann einmal verliebt gewesen, aber sie hatte vergessen, in wen. Der letzte Rest ihrer Angst wich und machte einer verzweifelten Hoffnung Platz.
»Kennst du mich?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Bist du … sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Telen ja liman?«, erwiderte der
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