Ascheherz
staubige Mann bekümmert. Seine Fingerspitzen, die immer noch ihre Schläfe berührten, waren kühl. Ganz offensichtlich wollte er nur wissen, woher die Verletzung stammte. Summer unterdrückte die aufsteigenden Tränen mit aller Kraft. Idiotin! Niemand kennt dich! Sieh es endlich ein. Eine Sekunde war sie versucht, ihre Enttäuschung an dem Fremden auszulassen, aber dann wehrte sie nur mit der Linken seine Hand ab und stieß ihn zurück.
»Es geht dich gar nichts an, was mit mir passiert ist. Und fass mich nicht noch einmal an, verstanden?«
In ihren eigenen Ohren hörte sie sich unnötig laut an, grob. Das Unbegreiflichste an dieser Situation war, dass sie seine Nähe trotz allem nicht länger als Bedrohung empfand. Im Gegenteil. Dafür war ihr seine Verletzlichkeit viel zu vertraut.
Er wirkte enttäuscht, fast gekränkt. Genau dort, wo ihre Hand auf seiner Brust gelegen hatte, löste sich ein Fetzen von verkrustetem Staub. Helle Haut kam zum Vorschein, die sicher lange keine Sonne mehr gesehen hatte.
Endlich gewann Summers vernünftige Stimme wieder die Oberhand. War er ein Minenarbeiter? Oder ein Sträfling aus dem Steinbruch? Vielleicht war er aus den Bergen geflohen. Das würde zumindest den Staub erklären. Ana hatte ihr erzählt, dass Gefangene - meist säumige Schuldner - ihre Strafe dort abarbeiten mussten. Mühsam schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter und zwang sich zu einem sachlichen Tonfall.
»Wenn du dich hier verstecken willst, solltest du wenigstens darauf achten, immer die Läden zu schließen«, erklärte sie nicht besonders freundlich. »Die Verwalter sind nicht blind.« Sie deutete
auf die Balkontüren und er schien zu verstehen, denn er schritt durch das Zimmer und zog sie zu. Summer steckte das Messer ein und schnappte sich ihre Tasche. Dann trat sie zur Badtür und stellte den Stuhl beiseite. Der schimmelige Geruch, der ihr entgegenschlug, als sie die Tür aufriss, stach ihr in die Nase. Es überraschte sie, dass Tageslicht in das Bad fiel. Über ihrem Kopf befand sich ein winziges, verschmiertes Oberlicht. In der diffusen Helligkeit erkannte sie ein Waschbecken und einen zerbrochenen Spiegel. Früher hatte das Bad wohl noch eine Wanne gehabt, aber jetzt lag nur noch Schutt in der Ecke. Der Anblick des Waschbeckens rief ihr ins Gedächtnis, wie durstig sie war. Auf gut Glück drehte sie den Wasserhahn auf. Er funktionierte tatsächlich noch. Es gurgelte, dann schoss rötliches Wasser aus dem Hahn, das nach und nach etwas klarer wurde. Summer schöpfte mit beiden Händen und trank gierig, so schnell und so viel sie konnte. Das Wasser war lauwarm und schmeckte nach abgestandenem Sud aus Muschelschalen, aber ihr Durst verschwand und sie fühlte sich zum ersten Mal an diesem Morgen etwas besser. Obwohl sie wusste, dass es nur der Fremde sein konnte, schreckte eine Bewegung neben ihr sie auf. Er stand an der Tür und starrte den Wasserhahn so verblüfft an, als hätte er noch nie einen gesehen. Als sie das Wasser zudrehte, stieß er einen erstaunten Laut aus. Sein ehrliches Erstaunen hätte Summer beinahe zum Lächeln gebracht. »Keine Wasserleitungen in deinem Bergwerk?«, fragte sie. Einem Impuls folgend, drehte sie das Wasser wieder auf und der Mann trat neben sie und hielt eine Hand unter den Strahl. Seine Nähe irritierte sie - nicht weil sie so fremd war, sondern weil sie diese so selbstverständlich zuließ. So als hätte sie in seiner Gegenwart keine Grenzen mehr, keine eigenen Gedanken, nicht einmal Worte. Schimmelgestank vermengte sich mit dem schlammigen
Modergeruch von nassem Staub. Die Kruste auf seiner Haut färbte sich dunkel und schmolz im Wasser zu Sand und Schmutz. Zum Vorschein kamen eine Hand mit bläulichen Fingernägeln und ein Unterarm, unter dessen heller Haut sich die Adern und Muskeln deutlich abzeichneten. Der Mann beugte sich fasziniert über das Waschbecken, um den Hahn genau zu studieren.
»Du bist wirklich fremd hier«, murmelte Summer verwundert. »Wie neu geboren und gestrandet, nicht wahr?« Und so verloren wie ich, setzte sie in Gedanken hinzu.
Beim Klang ihrer Stimme richtete er sich auf und lächelte sie strahlend an. Was auch immer er glaubte verstanden zu haben, offenbar war er der Meinung, ihr antworten zu müssen.
»Anzej«, beantwortete er die Frage, die sie ihm gar nicht gestellt hatte. Summer biss sich auf die Unterlippe. Jetzt hatte er auch noch einen Namen! Und er wartete darauf, dass sie ihm auch ihren verriet.
»Summer«, erwiderte
Weitere Kostenlose Bücher