Ascheherz
Blick auf Morts Theater zu werfen und das Bild als kostbare Erinnerung mitzunehmen.
Sie hatte Glück. Nicht an jedem Morgen machte in Maymara einer der schwer beladenen Transportzüge aus dem Westen Halt. Heute aber sah sie schon von Weitem den Dampf einer Lok. Der Zug war gerade eingefahren und würde noch eine Weile zum Entladen vor Ort sein. Menschen lagerten in Trauben vor dem Gebäude und kamen nun langsam in Bewegung. Karren mit Transportgütern, Kisten und Fässer voller Fisch warteten darauf, verladen und in andere Städte gebracht zu werden - vielleicht nach Mulara, das ein Stück im Landesinneren lag. Aufatmend tauchte Summer in die Masse der Reisenden ein und wurde endgültig unsichtbar. Der Bahnhof unterschied sich kaum von einer Lagerhalle oder einem der schmucklosen Kontore. Wer nur das schöne Herz des Hafens kannte, wäre von dieser Gegend sicher enttäuscht. Hier machten nur die weniger ansehnlichen Leute Geschäfte, statt Perlmuttmasken sah man verlebte Fratzen und vernarbte Gesichter. Und statt Barmusik hallte hier nur das Schrillen von Trillerpfeifen.
Summer eilte zu den Wagen in der Mitte, dorthin, wo bereits eine Gruppe von Saisonarbeitern darauf wartete, einen Platz für die Reise nach Hause kaufen zu können. So sehr sie es hasste, mit so vielen Menschen auf engem Raum zu sein, es war ihre einzige Chance, schnell aus der Stadt zu kommen.
»Stell dich gefälligst hinten an«, knurrte ihr ein alter Hafenarbeiter zu.
»Blaff du mich gefälligst nicht so an«, gab Summer in bester Manier ihrer neuen Rolle zurück. Leute drehten sich nach ihr um, aber ihre Blicke glitten sofort ohne weiteres Interesse wieder von ihr ab. Verstohlen musterte Summer die ausgewaschenen Gesichter und ließ den Blick dann über die Menge schweifen. Nur kurz beschleunigte ihr Herzschlag, als sie einen Mann mit dunklem Haar entdeckte, der sich entschlossen durch die Menge schob, als würde er nach jemandem suchen. Aber schon hatte sie ihn wieder aus den Augen verloren. Das rasselnde Husten, der Schweißgeruch und vor allem die unerträgliche Nähe so vieler Leute zerrten an ihren Nerven. Eingekeilt zwischen den Körpern wartete sie und versuchte, nicht an den Blutmann zu denken. Unbarmherzig langsam krochen die Minuten dahin. Endlich - fast eine halbe Stunde später - schnappte ein Schloss und die Waggontür wurde aufgestoßen. Sofort setzte das Geschiebe ein.
»Warum geht es denn nicht voran?«, maulte der alte Arbeiter. Er riss den Mund auf, um noch etwas zu sagen, aber jedes weitere Wort wurde von einem Schuss zerrissen. Summer zuckte zurück und prallte mit dem Rücken gegen eine Wand aus Körpern und gezischten Flüchen.
»Vorsicht! Macht Platz!«, befahl eine donnernde Stimme. Jetzt kam die ganze Traube ins Stolpern, fluchend und sich gegenseitig auf die Füße tretend gehorchten die Leute und wichen vom Waggon zurück.
»Runter!«, kam ein weiterer Befehl. Es wirkte wie ein bizarres Ballett, als die Leute die Köpfe mit den Armen schützten und sich tatsächlich duckten - gerade noch rechtzeitig, bevor ein weiterer Schuss fiel. Irgendwo weit über ihren Köpfen zersprang klirrend
eine Scheibe. Wenige Sekunden später zerplatzten Scherben auf dem Waggondach.
Summer, die inzwischen auf den Knien kauerte, wagte einen vorsichtigen Blick nach oben. Sie war nicht die Einzige. Ungläubiges Lachen ertönte, dann Anfeuerungsrufe.
»Da oben ist sie! Unter dem Dach!«
Im Sonnenlicht, das schräg durch das zerschossene Fenster fiel, schimmerten Silber und Weiß. Silberstaub auf weißem Fell. Eine von Morts Schneekatzen! Sie balancierte auf einer schmalen Verstrebung des Dachs, ein leichtes Ziel für die Leute der Stadtpolizei, die im Bahnhof Posten bezogen hatten.
Summer keuchte auf, als ein weiterer Schuss fiel - und das Tier wieder verfehlte. Wie war die Katze aus dem Käfig entkommen?
»Brauchst keine Angst zu haben«, kam es von rechts. Summer fuhr herum und blickte über kauernde Gestalten hinweg in das Gesicht einer Bettlerin, die mit überkreuzten Beinen auf einer Kiste hockte. »Die werden sie auch bald erwischen. Die jagen die ganzen Tiere schon seit heute Morgen.«
»Die ganzen Tiere? Du meinst mehrere? Frei in der Stadt?«, fragte Summer mit schwacher Stimme.
Die Frau spuckte aus und grinste. »Hast wohl die Neuigkeiten verschlafen, was? Jemand ist im Bestientheater beim Hafen eingebrochen. Komplett verwüstet und niedergebrannt. Und das Feuer hat auf fünf weitere Häuser
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