Ascheherz
Wette. Dann hörte sie ein Flüstern.
»Summer? Wo bist du?«
Es musste eine ihrer Einbildungen sein. Blinzelnd sah sie nach links - und da war Anzej! Er war kein Trugbild, seine Augen glühten in seinem blassen Gesicht und er wischte sich mit dem Ärmel über die blutende Nase. In der Hand hielt er den Stock, den eben
noch ihr Verfolger gehabt hatte. Als er Summer entdeckte, ließ er die Waffe einfach fallen und rannte zu ihr.
»Ich habe die halbe Nacht nach dir gesucht«, stieß er hervor. »Und dann stehe ich am Hafen und sehe, wie dich ein Kerl mit einem Stock jagt. Geht’s dir gut?«
Sie wusste nicht, warum, aber im ersten Reflex brach einfach ein Lachen aus ihr heraus. Er sah sie an, als sei sie verrückt geworden.
»Es geht mir nicht gut«, flüsterte sie. »Überhaupt nicht! Er hat mich gefunden!«
Anzej klappte die Kinnlade nach unten. Mit dem Daumen deutete er hinter sich. »Der dicke Kerl, dem ich gerade eins übergezogen habe? Das soll der Blutmann sein? Aber …«
Summer packte Anzej grob am Kragen und zog ihn zu sich heran. »Das ist nur sein Helfer!«, wisperte sie. » Er sieht aus wie in meinem Traum. Er … hat ein Schwert. Und er ist hier ganz in der Nähe!«
Anzej leckte sich nervös über die Lippen und warf einen Blick über die Schulter.
»Gut, das reicht«, stieß er hervor. »Komm, steh auf! Mit etwas Glück erwischen wir noch das Schiff.«
Das Erschreckendste war, wie plötzlich die Bilder da waren:
Schäumende Wogen, schwarz und bedrohlich, ein Sog, der sie ins Nichts zog . Vier Sekunden Wahnsinn, in denen die Vergangenheit über ihr zusammenschlug. Ein Mädchen mit kastanienbraunen, dichten Locken und einem herzförmigen Gesicht lachte sie an. Ein weißes Pferd scheute vor ihr und galoppierte durch den Schnee davon. Und jemand spielte auf einer Gitarre. »Komm!«, flüsterte die Stimme eines jungen Mannes ihr ins Ohr. »Er darf uns nicht sehen!«
»Summer!«, zischte Anzej. Offenbar deutete er ihr Zögern falsch. Er ließ sich vor ihr auf die Knie fallen, legte ihr die Hände um das Gesicht und sah ihr direkt in die Augen. Wie immer wirkte seine Berührung wie eine rettende Insel, auf die sie sich auch jetzt flüchtete. Das Malachitgrün seiner Iris vertrieb die Bilder, sog sie ein wie ein grüner See, in dem sie untergingen.
»Ich lasse dich nicht zurück und ich fahre auf keinen Fall ohne dich!«, fuhr er sie an. »Wenn du jetzt sagst, dass du trotz allem hierbleiben willst, dann bleiben wir - auch wenn es uns den Kopf kostet. Aber wenn du dein Leben - und meines - nur ein wenig liebst, dann - bitte! - komm jetzt mit mir auf dieses verdammte Schiff!«
Nicht weit von ihnen regte sich ihr Verfolger, stöhnte. Ein Scharren deutete darauf hin, dass er eben wieder auf die Beine kam.
»Also, was ist?«, drängte Anzej. »Sterben oder leben wir?«
»Okay«, flüsterte Summer. »Ich komme mit.«
Anzejs Hand war wie ein Anker, an dem sie sich festklammerte, um nicht in der Menge der Wartenden davonzutreiben. Geduckt und immer mit der Angst im Nacken, entdeckt zu werden, hatten sie sich zu den Piers nach vorne gedrängt. Inmitten der Menschen roch es nach Kautabak und feuchten Mänteln. Obwohl immer noch Hunderte an den Anlegestellen standen, herrschte eine erstaunliche Ruhe. Niemand, der in den Krieg zog, schien Lust auf eine Unterhaltung zu haben. Nur die Möwen kreischten ihr Hohngelächter und flogen zu dicht über den Köpfen der Leute dahin, in der Hoffnung, ihnen Proviant aus dem Gepäck stehlen
zu können. Summer senkte den Blick und versuchte, unsichtbar zu werden.
»Da rüber!«, rief Anzej und steuerte auf den Durchgang der Absperrung zu. Dahinter legte gerade das dritte Schiff ab. Leinen wurden bereits losgemacht, und ein paar Leute machten sich an der aufgestützten Leiter, die zur Einstiegsluke führte, zu schaffen. Anzej drängte sich zu dem Mann durch, der eben den Durchgang mit einer Kette verriegeln wollte, und hielt ihm außer Atem zwei Passierscheine unter die Nase. »Unser Schiff! Wir müssen durch.«
»Bisschen spät, Junge.«
»Keine Zeit für Diskussionen. Wir haben bezahlt«, beharrte Anzej. »Kein Gepäck, wir müssen nur auf das Schiff!«
Der Mann knurrte etwas, doch dann hakte er die Eisenkette wieder los und winkte sie unwillig durch.
Summer zog den Kopf zwischen die Schultern, im Nacken die kribbelnde Furcht, dass die Verfolger sie genau in diesem Augenblick entdeckten. Umzusehen wagte sie sich nicht mehr, aber auch das, was sich vor ihr
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