Ascheherz
stecken. Ihr Klappmesser fand sie in der Tasche. Aber das Geld … war weg!
Anzej?
Die Erkenntnis traf sie wie ein Eimer Spülwasser mitten ins Gesicht. Wie in einer Theaterszene sah sie sich selbst mit ihm vor der Kneipe stehen. Sah, wie er sie umarmte. Hörte, wie er vom Nordland sprach und von Heimweh - und wie sie ihm völlig gebannt zuhörte und nicht merkte, wie seine Hand in ihre Tasche glitt. Am liebsten hätte sie geflucht.
Der Kahlköpfige spuckte aus und lachte. »Och, keine Umstände.
Mein Geld für dich habe ich schon längst bekommen«, sagte er mit einem tabakbraunen Grinsen. »Und ich kriege noch mal so viel, wenn ich dich abgeliefert habe.«
In dem Moment, in dem er seinen Stock hochschnellen ließ und mit routiniertem Griff aus der Luft fischte, reagierte Summer instinktiv. Hunger und Schwäche waren vergessen, jetzt zählte nur noch, schneller zu sein als er. Der Kerl mochte kräftig sein, aber ein guter Läufer war er nicht.
Sie hätte mehr Angst haben sollen, aber seltsamerweise nahm sie die Gefahr wie durch einen zornroten Schleier wahr. Du bekommst mich nicht, Krummbein! , dachte sie grimmig. Und gleichzeitig ertappte sie sich bei dem gemeinen Wunsch, dass Anzej einem dieser Seelenhändler in die Arme laufen sollte. Verlassen zu werden, war eine Sache, das lernte sie nun. Verlassen und bestohlen aber eine ganz andere.
Mühelos brachte sie einen Abstand zwischen sich und ihren Verfolger. Hinter der nächsten Hausecke glitt sie in die schmale Flucht zwischen zwei Häusern, die sie für eine Querstraße hielt - doch sie führte in einen Hinterhof. Ein Haufen mit Pflastersteinen türmte sich in der Mitte, ein Mörteleimer daneben wartete auf Handwerker. Summer blieb keuchend stehen, sah sich um - und atmete auf. Vorne gab es gleich zwei Durchgänge zu den Nebenstraßen. Gut! Selbst wenn ihr Verfolger ihre Spur noch nicht verloren hatte, standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass er den falschen Weg wählte. Sie wandte sich nach rechts und rannte auf den Durchgang zu.
Den Mann, der unter dem Bogen stand, sah sie erst, als sie bereits auf ihn zustürzte. Im ersten Augenblick war sie erleichtert und wollte ihm schon zurufen, dass sie verfolgt wurde. Doch dann begriff sie, dass er es längst wusste. Denn auch er hatte einen
Stock in der Hand. Und offenbar hatte er seelenruhig auf sie gewartet. Schotter kratzte unter ihren Sohlen, als sie abbremste und schlitternd zum Stehen kam.
Sie musste sich gar nicht erst umdrehen und zum linken Durchgang rennen, um zu verstehen, dass sie wie eine Maus in die Falle gelaufen war. Erst jetzt kam die Angst.
»Hilfe!«, brüllte sie zu den geschlossenen Fenstern hoch. »Überfall! Menschenraub!«
Der Mann im rechten Durchgang lachte und trat auf den Hof. Er war gedrungen, ein Riese mit Armen wie Keulen.
»Hat kein’ Zweck«, nuschelte er. »Die Häuser stehen leer. Du sitzt in der Falle.« Und zu ihrer maßlosen Überraschung begann er zu singen: »Ich und du im Kartenhaus - kann keiner hinein, kann keiner hinaus …«
Als er sah, wie ihr das Blut aus den Wangen wich, grinste er noch breiter. Und dann geschah alles gleichzeitig. Hinter sich hörte sie, wie der erste Wegelagerer keuchend den Innenhof erreichte. Und im Durchgang links von ihr knirschten die bedächtigen Schritte des dritten Mannes. Dann war ihre Brust mit einem Mal zu eng zum Atmen.
Es war seltsam, ihn bei Tageslicht zu sehen, ganz und gar in der Wirklichkeit. Er war groß und kräftig. Ein Eindruck, der durch den altertümlichen bodenlangen Mantel noch verstärkt wurde. Sie wusste nicht, was sie mehr entsetzte: Die Tatsache, dass er eine schwarze Maske trug, die aus Morts Theater hätte stammen können, oder das Schwert in seiner Rechten, dessen Spitze nun provozierend langsam und unheilvoll über die Pflastersteine kratzte. Seine Hände steckten in fleckigen Handschuhen.
»Warum verfolgst du mich?«, stammelte Summer. »Wer …?«
»Wer ich bin? Dein Albtraum«, antwortete er mir einer rauen,
tiefen Stimme, die ihren Puls zum Rasen brachte. »Jemand, der dich schon viel zu lange sucht.«
Das Phantom starrte sie an und Summer spürte sein Lächeln hinter der Maske. »Nenn mich Henker. Oder Blutmann. Ganz wie du willst.« Ein kaum merkliches Kopfrucken in Richtung der beiden Männer. »Los, fangt sie schon ein!«
Noch nie hatte Summer bewusst erlebt, aus wie vielen Personen sie tatsächlich bestand. Und auch nicht, wie es war, wenn alle zur gleichen Zeit zu einer einzigen
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