Ascheherz
noch in den Knochen. Aber da war noch etwas anderes. Ein kalter Hauch zwischen Anzej und ihr, eine Distanz. Als würde die Klarheit, die sie seit der Nacht im Freien verspürte, ihr den Freund in einem härteren Licht zeigen.
»Anzej?«
»Mhm?«, fragte er, ohne den Blick von der Lampe zu wenden.
»Was willst du wirklich im Nordland?«
Als er sich zu ihr umwandte und überrascht lächelte, war er wieder ganz Anzej - der Mann, der sie zum Lachen und Streiten brachte und jederzeit sein Leben für sie aufs Spiel setzte. Für einen Moment schämte sie sich für ihr Misstrauen, aber dennoch spürte sie immer noch den feinen Missklang zwischen ihm und ihr. Du bist ein Dieb, der sogar mich bestiehlt . Wozu wärst du noch in der Lage?
»Die Striemen auf deinem Rücken … Wer hat dir das angetan?
Die Wunden stammen nicht aus dem Steinbruch, nicht wahr? Willst du deshalb zurückkehren?«
Er wurde ernst, doch aus seiner Miene konnte sie nicht herauslesen, ob ihre Worte zutrafen oder nicht. Eine Weile sahen sie sich nur an, dann richtete Anzej sich ganz auf und verschränkte die Arme.
»Willst du damit sagen, du traust mir nicht mehr? Nur weil ich dir ein paar Münzen gestohlen habe? Was soll das, Summer? Du hättest genau dasselbe getan!«
»Du weißt genau, dass es nicht um ein paar Münzen geht.«
»Aber um die Frage, ob du mir vertraust.«
Summer schluckte und wich seinem Blick aus. »Sag du es mir. Kann ich jemandem trauen, der mir etwas Wichtiges verschweigt, Anzej?«
»Ich verschweige dir nichts«, erwiderte er und lächelte. »Außer vielleicht der Tatsache, dass ich auch dich an die Werberin verkauft habe, um diese schöne Einzelkabine für uns zu bekommen. Tja, genieße den Luxus, denn in den nächsten Monaten werden wir leider in Feldzelten leben.«
Als sie auf seinen Scherz nicht einging, kam er zu ihr und setzte sich neben sie. Seine Schultern sanken nach vorn, er stützte die Ellbogen auf die Knie, fuhr sich durch das Haar. Mit einem Mal sah er nur noch erschöpft aus. Zwischen zwei Haarsträhnen hob sich auf seinem Nacken der Ausläufer einer Narbe ab und Summer streckte zögernd die Hand aus. An jedem anderen Tag hätte sie ihre Hand auf die verheilte Wunde gelegt - tröstend und voller Mitgefühl. Doch heute verharrte sie kurz vor der Berührung - und zog die Hand schließlich wieder zurück.
»Du bist immer noch wütend, weil ich dein Geld gestohlen habe«, sagte Anzej nach einer Weile. »Und ja, du hast allen Grund
dazu. Aber bitte glaube mir, wenn ich sage, dass ich dir nie schaden wollte. Vielleicht… hatte ich einfach Angst, du nimmst das Geld und verschwindest noch in derselben Nacht aus der Stadt.«
»Das ist nicht die Antwort auf meine Frage. Ich will wissen, worum es dir wirklich geht. Was suchst du im Nordland? Du hast gesagt, du bangst um jemanden. Wer ist es?«
Anzej schwieg zu lange. Nun, das ist auch eine Antwort , dachte Summer verärgert. »Du verbirgst sehr wohl etwas! Du kennst meine Träume und meinen schlimmsten Feind. Du erzählst mir zwar alles Mögliche über das Nordland - Geschichten, die wahr sein können oder auch nicht. Aber sobald es um dich selbst geht…«
Er sprang so abrupt auf, dass er mit der Schulter gegen die Lampe stieß. Im schaukelnden Licht stand er da, die Hände zu Fäusten geballt, mit zusammengepressten Lippen.
»Kannst du es nicht begreifen oder willst du es nicht?«, brach es aus ihm heraus. »Ich habe so vieles in meinem Herzen einschließen müssen, um in der Sklaverei zu überleben. Ich will nicht einmal mehr daran denken! Ich will nur eines, nach Hause. Mit dir. Wo wir beide sicher sind.«
Sonst hatte dieses »Wir« Summer stets eingehüllt wie ein wärmender Mantel. Doch heute ließ sie seine Worte in sich nachklingen. Und ihr war zum Heulen zumute, weil sie immer noch einen schrägen Ton hatten.
Anzej seufzte. »Alles hat seine Zeit, Summer«, sagte er müde. »Ich werde dir alles erzählen - jedes Geheimnis meiner Seele, wenn du willst. Aber nicht heute. Und auch nicht morgen.«
Im vergeblichen Bemühen, sich zumindest ein Stück vom tiefsten Wasser zu entfernen, hatte Summer sich in die obere Koje verkrochen. Ihre Augen brannten inzwischen vor Fieber, doch sobald sie sie schloss, fand sie sich in dem Hinterhof wieder - mit einem Pflasterstein in der Hand. Und dem Geräusch des Schwertes, das über Stein scharrte. Schon die Erinnerung an diesen Laut fuhr ihr wie ein Frostschauer durch die Knochen. Und dennoch rief sie sich wieder und
Weitere Kostenlose Bücher