Ascheherz
früh für das Alltagsleben. Die Fensterläden waren noch geschlossen, nur aus der Richtung des Hafens kamen bereits Zeichen von Leben. Möwen glitten über den Himmel und stürzten sich mit heiseren Schreien in den Hafen - wo vermutlich der erste Fang aus den Fischerbooten ausgeladen wurde. Siedend heiß fielen Summer die Rekrutenschiffe ein, doch als sie hochschoss, tanzten Sterne vor ihren Augen und sie musste sich zur Ruhe zwingen, wenn sie nicht das Gleichgewicht verlieren und vom Torbogen fallen wollte. Nein, es ist noch zu früh , beruhigte sie sich. Sie haben bestimmt noch nicht abgelegt . Während sie mit wackeligen Knien in Richtung Straße kletterte, versuchte sie sich vorzustellen, dass Anzej den Vertrag der Kriegswerberin unterschrieben hatte, um eine Passage zu bekommen. Nein, es passte nicht zu ihm. Ganz sicher würde er sich nicht freiwillig in die nächste Gefangenschaft begeben. Doch wie sollte er die Überfahrt dann bezahlen? Das Geld hatte immer noch Summer. Zumindest das beruhigte sie. Anzej war ganz sicher zur Vernunft gekommen. Er hatte es sich anders überlegt und wartete am Hafen auf sie. Und was, wenn irgendeiner dieser Seelenverkäufer ihn niedergeschlagen und auf das Schiff verschleppt hat?
Jetzt raste ihr Herz doch und ihr wurde schwindelig. Hol erst mal Luft! Sie stützte sich an der Hausmauer ab. Es tat gut, den feuchten Stein unter der Handfläche zu spüren. Wo der Hafen war, konnte sie mühelos erraten. Über den Hausdächern ragte der
Leuchtturm weit in den Himmel. Die kühle Luft vertrieb die trüben Gedanken, und sie stellte überrascht fest, dass sie sich noch nie so klar gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Als hätte ich ein Fieber überstanden , dachte sie verwundert. Oder eine tiefe Trunkenheit. Anzejs Küsse schienen lange vergangen zu sein. Und auch der angenehme, weiche Nebel, der in den letzten Tagen und Wochen über ihren Gedanken gelegen hatte, hatte sich aufgelöst. Noch einmal ließ sie jeden Tag mit Anzej und jeden Satz ihres Streits Revue passieren. Noch gestern hätte sie geschworen, dass sie inzwischen wusste, was in ihm vorging. Nun aber musste sie sich eingestehen, dass das Gegenteil von Einsamkeit noch lange nicht bedeutete, auch nur einen einzigen Dämon im Leben eines anderen zu kennen. Wen hatte er zurückgelassen? Um wen bangte er nun so sehr, dass er um jeden Preis in das Nordland zurückkehren wollte?
Das unbehagliche Gefühl ließ sie nicht los, als sie ihre Tasche, die sie sich gestern Nacht zur Sicherheit unter den Mantel gestopft hatte, hervorholte und sich wieder umhängte. Dann bückte sie sich, um Schmutz und Asseln von den Hosenbeinen zu klopfen. Als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick in den Torschatten.
Ihre Sinne glühten auf wie Lampen und ihre Muskeln spannten sich, noch bevor ihr Verstand endgültig erfasst hatte, dass sie in Schwierigkeiten steckte.
An der gegenüberliegenden Wand lehnte ein kahl geschorener Mann, einen Fuß lässig an der Hausmauer aufgestützt. Ebenso lässig ließ er einen Schlagstock, den er mit einer ledernen Schlinge an seinem Handgelenk befestigt hatte, an seiner Seite herabbaumeln.
»Na, ausgeschlafen?«, fragte er.
Mit einem Blick erfasste Summer seine ganze Erscheinung:
Dass er braune Augen hatte und leicht schielte. Dass er eine Lederjacke trug und gebogene Beine hatte, so als hätte er sein ganzes Leben lang Lasten getragen. Sie hörte das leise Klacken des Stocks, der nun gegen die Wand schwang, und irgendwo ein Pfeifen. Jemand gab ein Lied zum Besten. Blitzschnell überschlug Summer ihre Möglichkeiten. Immerhin - sie war mitten in der Stadt. Vermutlich hatte er es nur auf ihr Geld abgesehen. Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass sie einem Wegelagerer begegnete. Jetzt hieß es einen kühlen Kopf bewahren. Und nicht zu viel Angst zeigen.
»Tja, da hast du dir den falschen Fisch ausgesucht«, sagte sie mit fester Stimme. »Bei mir gibt es nichts zu holen.«
Sie unterstrich ihre Worte mit einer unwirschen, ausholenden Geste ihrer linken Hand, die von der Bewegung ihrer rechten ablenkte. Der Kerl war auf die Tasche aus. Die konnte er bekommen, wenn es ihr einen Vorsprung verschaffte. Nur würde die Tasche dann leer sein. »Überleg mal, hätte ich Geld, müsste ich wohl kaum hier draußen im Regen schlafen«, fuhr sie fort. Blitzschnell griff sie währenddessen in die Tasche, um den Geldbeutel und das Messer zu greifen und in Sicherheit zu bringen. Dann blieb ihr jedes weitere Wort im Hals
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