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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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ihre Hände, entdeckte Schwielen an der Rechten, die von einem Schwertgriff stammten. Oder vielleicht von einem Degen oder Messer? Statt Gesichtern starrten sie leere Flecken an wie weiße Masken,
während sie sich nach dem Mann umblickte, der sie das Tanzen gelehrt hatte. Sie hatte so viele Fragen an ihn, doch sie konnte ihn nicht entdecken. Ein Mann in der Menge trug seltsamerweise eine Matrosenmütze, ein anderer eine geflickte Wetterjacke aus Segelstoff. Und im Hintergrund bewegte sich der Marmor, als würde er zu Wasser zerfließen. Dann entdeckte sie ein Gesicht, das sie kannte
    Der alte Musiker lächelte ihr anerkennend zu. Applaus brandete auf. »Noch ein Lied«, rief ihr ein Matrose zu, doch Anzej zerrte sie bereits unbarmherzig aus der Menge.
    »Bist du verrückt geworden?«, zischte er ihr ins Ohr. »Noch auffälliger kannst du dich wohl nicht benehmen?«
    Summer war viel zu überrumpelt, um zu reagieren. Vor ihren Augen irrlichterte noch das Bild der Festgesellschaft. Die blauen Blüten, die nach Schnee und Weihrauch duften … und an den Fenstern Eisblumen …
    Am Niedergang des Zwischendecks blieb Anzej stehen. Seine Finger lagen wie Eisenklammern um ihre Oberarme.
    »Was machst du hier?« Sein wütender Blick war wie eine Ohrfeige, die sie wieder in die Gegenwart zurückbrachte.
    »Ich brauchte frische Luft«, gab sie ebenso unfreundlich zurück.
    »Und warum weckst du mich dann nicht, sondern läufst einfach weg? Summer, ich habe mir Sorgen gemacht!«
    »Warum? Hast du befürchtet, ich springe ins Wasser und schwimme davon?«

    An ihm haftete noch der Geruch der Kammer - Waffenöl und feuchtes Holz. Und plötzlich konnte sie seine Nähe nicht mehr ertragen. Grob entwand sie sich ihm.
    »Fass mich nie wieder so an«, fauchte sie. »Und wage es nie wieder, mich hinter dir herzuzerren wie ein Kind, das du zurechtweist!«
    Anzej erstarrte, als hätte er einen Hieb erhalten. Er kniff irritiert die Augen zusammen und musterte sie. So blass hatte sie ihn noch nie gesehen, und aus irgendeinem Grund verspürte sie eine grimmige Genugtuung. Obwohl das Schiff immer noch schwankte, stand sie aufrecht, ganz und gar erfüllt von der Gestalt aus einer anderen Zeit.
    »Was ist los mit dir?«, fragte er. »Hast du in der Kammer schlecht geträumt? Hast du wieder … Dinge gesehen?«
    Erzähl ihm nichts! Der Gedanke flackerte so abrupt in ihrem Inneren auf, dass sie zusammenzuckte. Das bin nicht ich , dachte sie verwundert. Es ist die andere, die, die ich gewesen bin! Aber warum warnt sie mich?
    »Nichts ist los. Ich habe mich nur unter die Leute gemischt und Erkundigungen eingeholt. Du warst schließlich Jahre nicht mehr im Nordland. Du hast keine Ahnung, wie es heute dort aussieht. Ich weiß jetzt wenigstens, wo die Kampflinien liegen und von welchen Orten wir uns fernhalten sollten.«
    Ein hässlicher Verdacht stieg in ihr auf. In diesen Sekunden sah sie ihn mit den nüchternen, kühlen Augen der Frau im weißen Kleid. Und fand ihn plötzlich nicht mehr fürsorglich und anziehend, sondern auf eine lauernde Weise gefährlich. Hier, im Licht der aufgehenden Sonne, wirkten seine Züge fremder denn je. Wusstest du jemals, wie es im Nordland aussieht, Anzej?
    »Weißt du, worüber ich mich wundere?«, sagte sie. »Dass es
so viele schöne Dinge in deiner Heimat gibt, von denen du mir nichts erzählt hast. Die Kristallkammer zum Beispiel, die Sternwarte und die wilden Menschen in den Bergen. Sie sind faszinierende Geschöpfe. Im Kindesalter verbinden sie sich mit einem Raubtier und verlassen ihre Gemeinschaft. Erst viele Jahre später, wenn sie gelernt haben, mit dem Raubtier in sich selbst zu leben, kehren sie heim.«
    Und diese Geschichte habe ich nicht von dir , dachte sie staunend. Und auch nicht von Farrin, Mia oder Finn.
    »Du erinnerst dich?«, fragte er fassungslos. »An das Nordland?«
    »Vielleicht«, erwiderte Summer. »Vielleicht auch nicht.«
    Anzej schluckte schwer. Ratlos blickte er sich um, als könnten die Wellen ihm eine passende Antwort einflüstern. Dann schüttelte er den Kopf und streckte ihr die Hand hin. »Komm mit mir in die Kabine, Summer«, bat er mit dieser Sanftheit in der Stimme, die sie immer noch berührte. »Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Und ja, ich benehme mich vielleicht wie ein Idiot, wenn ich dich von deiner kleinen Aufführung wegzerre, aber versetze dich in meine Lage: Eben halte ich noch ein fieberndes, verstörtes Mädchen im Arm, bis es einschläft. Und das

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