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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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er und gähnte. »Wir hassen schließlich beide das Wasser.« Keine Rechtfertigung, keine Erklärung, warum er ihr ohne zu fragen so nahe gekommen war. Du und ich im Kartenhaus … Nur Anzej hatte das Lied gekannt. Hatte er selbst die Rolle des Blutmannes gespielt, um Summer zum Hafen zu treiben? Nein, die Gestalt war größer gewesen.
Vermutlich war es einer der Kartenspieler aus der Kneipe gewesen. Und Anzej hatte ihm und den anderen sicher das Lied beigebracht, um die Illusion für Summer perfekt zu machen.
    »Du zitterst ja. Ist dir kalt?«, fragte er besorgt. »Ich habe Decken aus der Kabine mitgebracht.«
    Langsam schüttelte sie den Kopf.
    »Hast du wieder von ihm geträumt?«
    Summer spannte sich noch mehr an. »Ich glaube schon«, antwortete sie vorsichtig. »Aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«
    »Gut«, sagte er und lächelte. »Hier bist du sicher. Hast du noch Fieber?«
    Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht zurückzucken durfte, als er die Hand nach ihr ausstreckte und ihre Stirn berührte. Vielleicht lag es am Hunger, am Durst und der Erschöpfung, dass ihr genau in diesem Moment wieder schwindelig wurde. Die Berührung fühlte sich an wie Heimkommen, und die Vertrautheit zwischen ihnen war wieder da, als hätte jemand ein Licht angeknipst. Und als er sie sacht zu sich herunterzog, wehrte sie sich nicht. Plötzlich war alle Furcht wie weggeblasen. Als seine Lippen ihre Schläfe berührten, übermannte sie die völlig widersinnige Sehnsucht, wieder zu Anzej zu gehören und alles zu vergessen.
    Es sind tatsächlich seine Küsse!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie betäuben mich und sie rauben mir die Gedanken!
    Und deine Träume? , sagte eine warnende Stimme in ihrem Inneren. Gib Acht auf deine Träume! Hüte sie gut, Summer!
    Sie hoffte, er würde nicht merken, wie ihr Herz raste, während sie sich mit aller Macht gegen das Netz aus klebrigen Fäden stemmte, das sich bereits um ihre Gedanken wob.
    Unter ihrem Jochbein spürte sie Anzejs langsamen Herzschlag
und sah mit einem Mal die vergangenen Wochen mit einer Schärfe, die schmerzte: Wie eine Schlafwandlerin war sie ihm gefolgt. Bereitwillig, aus der Sehnsucht heraus, zu jemandem zu gehören. Idiotin! Du hast ihm alles geglaubt. Alles!
    »Bist du mir noch böse?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    »Nein«, antwortete sie.
    Sieh ihn an!, schrie die Stimme der Frau, die sie vor so vielen Jahren gewesen war. Sieh, was er ist! Sie gehorchte und schlug die Augen auf. Und lernte etwas ganz und gar Neues über sich. Es war nicht schwierig, in diese andere Wirklichkeit zu blicken. Direkt vor ihren Augen reflektierte das Licht des Oktobermonds auf einer durchbrochenen Fläche. Sie glich Libellenflügeln, die feine Struktur, der Glanz. Als hätte ein Künstler sich dazu inspirieren lassen, einen Mantel aus Tausenden von Flügeln zu erschaffen. Und Anzej hatte sich darin eingehüllt. Nein, mehr noch, es war ein Teil von ihm. Mit einem Frösteln entdeckte sie eine Stelle an seinem Oberarm, an der die zarte Libellenhaut mit seinem Fleisch verwachsen war. Was ihr jedoch endgültig vor Entsetzen den Atem nahm, war seine Haut. Sie wirkte beinahe transparent. Sie bildete sich ein, die Knochen durch die Haut schimmern zu sehen. Den Jochbogen unter seiner Wange, die Zähne. Lady Tod , schoss es ihr durch den Kopf. In meinem Traum meinte sie gar nicht mich, sondern ihn!
    Rasch schloss sie die Augen und kämpfte mit aller Kraft den Impuls nieder, aufzuspringen und zu flüchten. Stattdessen ließ sie den Kopf mit jedem Atemzug schwerer werden, als würde sie wieder in den Traum zurücksinken. Zart strichen seine Fingerspitzen über ihre Stirn, und wieder musste sie alle Kraft zusammennehmen, um ruhig zu bleiben.
    »Vertraust du mir, Summer?«, hörte sie ihn flüstern.

    Sie kämpfte eine jähe Aufwallung von Wut nieder, dann konzentrierte sich auf alles, was sie je in Morts Truppe gelernt hatte. »Ja, ich vertraue dir, Anzej«, murmelte sie, als sei sie schon wieder an der Schwelle zum Schlaf.
    Und an der Art, wie er sich entspannte, erkannte sie, dass ihr dieses Mal die beste Lüge von allen gelungen war. Sie harrte aus, mit zusammengekniffenen Lidern und beherrscht ruhigem Atem. Nach einer Ewigkeit ließ auch die letzte Anspannung in seinen Armen nach. Sie wartete weitere hundert Atemzüge, bis sie ganz sicher war, dass er wieder schlief.
    Unendlich vorsichtig löste sie sich von ihm, rollte sich auf die Knie.
    Fernes Motorengeräusch erschreckte sie so sehr,

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