Ascheherz
ein Kind. Die Erinnerung, die sie suchte, flatterte am Rand ihres Bewusstseins, doch wenn sie nicht bald danach griff, würde sie wieder auf das Meer hinausfliegen und für immer versinken.
»Was ist?«, fragte der Musiker. »Mutig genug, mich zu belästigen, aber zu feige, dir selbst zu helfen?«
Summer blickte sich um. Die Offiziere beachteten sie nicht. Farrin war verschwunden und der Wind trug jedes gesprochene Wort davon.
Sie stellte sich neben den Mann, atmete durch und begann zu summen. Leise erst, doch dann, als sie eine Melodie hatte, schloss sie die Augen und wagte sich ein wenig weiter vor. Wort für Wort fand sie das Lied wieder, fügte Strophen hinzu, von denen sie nicht wusste, ob sie sich erinnerte oder sie lediglich erfand. Auf die erste, noch stockende Strophe folgte ein Refrain. Es war ein
Lied über einen einbeinigen Mann, der Tänzer sein wollte, und eine Frau, die stets auf Händen lief, weil sie Angst vor dem Himmel hatte.
Wie eine zweite Stimme setzte plötzlich das Instrument des Alten als Begleitung ein - höher, als die von Summer, und so voller Leidenschaft, dass Summer ein Schauer über den Rücken lief.
Als sie ein Lachen hörte, öffnete sie die Augen und blickte in faszinierte Gesichter: ein paar Matrosen, die einige Augenblicke in der Arbeit innehielten, und mehrere Reisende, die mit den Füßen den Takt auffingen und nun zu klatschen begannen. Auf dem Zwischendeck reckten die Söldner die Hälse. Es war wie auf Morts Bühne. Und Summer holte Luft und sang, herausfordernd nun, mit kehliger Stimme. Sie musste lachen, als der Musiker einen Wirbel spielte, der wie das Wiehern eines Pferdes klang. Sie stampfte mit den anderen zum Takt und drehte sich. Und mitten in der Drehung verwandelten sich vor ihren Augen und wurde durch den Anblick von Anzej so jäh in die Wirklichkeit zurückgerissen, dass sie das Gleichgewicht verlor und taumelte. Und auch diesmal war Anzej mit einem Satz zur Stelle, um sie vor einem Sturz zu bewahren und sicher aufzufangen.
die Schiffslaternen in Kristalllüster und das Meer um sie herum in schwarzen Marmor. Sie befand sich in einer Festgesellschaft - Männer und Frauen in Gewändern, wie Summer sie nur von alten Gemälden kannte, umgaben sie. Die fremdartig geschnittenen Kleider aus Samt reichten bis zum Boden. Betäubender, eisfrischer Blumenduft lag in der Luft, Goldstickereien glänzten an Handgelenken - und Silbermünzen, die bei jedem Schritt klimperten, an Jacken und Westen. Die Frauen trugen Muschelschmuck an den Stirnen, die Männer hatten schwarze Augen und langes dunkles Haar, das an die Mähnen von Pferden erinnerte. Mit einem dieser Männer tanzte Summer, doch sie sah ihm dabei nicht ins Gesicht, viel zu bemüht war sie, die Tanzschritte zu erlernen. »Sieh nicht auf die Füße,
hör nur auf die Musik, sie führt dich!«, sagte er mit einem Lachen - und sie ließ es zu, dass er sie dichter an sich heranzog und im Schwung herumwirbelte. Sein Haar streifte über ihre Hände, die auf seinen Schultern lagen. Doch als sie aufblickte, sah sie sein Gesicht nicht. Als wäre in diesem Bild ein leerer Fleck oder eine besonders unscharfe Stelle. Sie mochte ihn, und noch mehr mochte sie die Musik. All das war neu und faszinierend für sie - so, als hätte sie noch nie zuvor eine Melodie gehört. Sie spürte Glück, vielleicht ebenfalls zum ersten Mal: ein zitternder Falter in ihrer Kehle. Staunend schaute sie sich beim Tanzen um; betrachtete den Saal, den sie nun in aller Deutlichkeit sah. Und erblickte sich selbst, hundertfach gespiegelt in den polierten Marmorwänden und den schmalen Spiegeln. Sie trug ein schlichtes Kleid, das dennoch kostbar wirkte - und so weiß, dass es zu gleißen schien. Der Stoff war leicht wie Seide und Federschlag, er bauschte sich und wirbelte bei jedem Schritt. Ihr Haar floss über ihren Rücken bis zu den Hüften, goldrote Wellen, in die eisblaue, sternförmige Blüten geflochten waren. Und obwohl sie im Spiegelbild ganz deutlich Summers Züge erkannte, ihr Lachen und die rauchbraunen Augen, lag in ihrem Blick und in ihrer Haltung etwas ganz anderes. Die Person, die sich hier selbst gespiegelt sah, war stolz und auf eine beinahe überhebliche Weise furchtlos. Barfuß tanzte sie auf dem Steinboden, als wäre sie das Maß aller Dinge in diesem Raum. Kein Zweifel, das war keine Rolle. Diesmal war sie es selbst. Verwundert löste sie sich aus der Umarmung ihres Tanzpartners und blieb inmitten der Menschen stehen. Sie betrachtete
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