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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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erst erfasste sie ihre Umgebung. Offenbar war sie die ganze Nacht lang bewusstlos gewesen. Es war heller Morgen, und um sie herum war felsiges Land, Bäume mit gedrillten Ästen, die ihr Laub bereits verloren hatten. Was, wenn sie längst auf dem Gebiet der Raubfürstin waren? Konnten die anderen sie dann finden? Würden sie sie überhaupt suchen? Leben sie überhaupt noch?, flüsterte eine gemeine Stimme in ihrem Hinterkopf. Jetzt musste sie wieder gegen die Tränen ankämpfen.
    Der Blutmann zurrte den Sattelgurt fest, rückte das Gewehr, das in einer Ledertasche am Sattel befestigt war, zurecht und schnallte den gestohlenen Armeerucksack fest. Dann holte er ein weiteres Seil hervor und kam auf sie zu. Alle Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, als er direkt neben sie trat und die Fesseln, die sie an den Felsen banden, zu lösen begann. »Wohin bringst du mich?«
    »Weg von der Militärgrenze.«
    »Willst du mich wieder aufs Pferd binden wie ein Stück erlegtes Wild?«

    Er stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Verräter verdienen kein Pferd. Ich reite. Du gehst zu Fuß.«

    Sie hatte sich vor vielen Menschen gefürchtet, manche von ihnen verachtet oder sich über sie geärgert, aber noch nie hatte sie jemanden so sehr gehasst. Vor Durst klebte ihr die Zunge am Gaumen und ihre Handgelenke pochten bei jedem Ruck am Seil, während sie hinter dem Pferd herstolperte.
    Der Weg führte bergauf durch Felsgänge, die so schmal waren, dass die Knie des Blutmanns den Stein streiften. Meißel- und Frässpuren an den Wänden zeigten, dass dieser Gang von Menschenhand in den Fels geschlagen worden war, Hufschlag hallte so laut, dass Summer sicher war, dass sie schon weitab von den Kampflinien sein mussten. Dennoch hatte sie das unbehagliche Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Fieberhaft versuchte sie Anhaltspunkte zu finden, wohin er sie brachte. Er hielt sich in nordöstlicher Richtung. Wenn sie sich die Karte des Nordlands in Erinnerung rief - diesen Abdruck eines Klauenfußes mit vier Zehen, dann bewegten sie sich wohl in Richtung der Fjorde. Allerdings nicht so weit nordwärts, dass sie zur Zitadelle stoßen würden. Ganz offensichtlich versuchte er die Kampflinien zu meiden. Das Pferd lief in schnellem Schritt - sorgfältig darauf bedacht, den Abstand zwischen sich und ihr so groß wie möglich zu halten. Und der Blutmann machte keine Anstalten, es zurückzuhalten. Pausen gönnte er ihr nur, wenn das Pferd Ruhe brauchte. Er antwortete nicht auf ihre Fragen und überließ ihr nur schweigend etwas Wasser aus einer Feldflasche und ein paar Stücke gedörrtes Fleisch, die er in dem gestohlenen Rucksack fand.

    Sobald er nicht hinsah, machte sie sich fieberhaft an den Fesseln zu schaffen, doch sie musste schnell einsehen, dass es nicht so einfach sein würde, sie zu lösen. Das, was ihre Handgelenke unauflösbar aneinanderband, war eine Art Metallscharnier mit einem winzigen Schloss. Ein weiteres Seil war wie ein Gürtel um ihre Taille geschlungen und ebenfalls mit diesem Schloss verbunden. Als würde er fürchten, dass ich ihn hinterrücks erwürge , dachte sie grimmig.
    Während sie Rast machten, versuchte sie sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über Schlösser wusste. Wie sich Handschellen öffnen ließen, hatte sie schon ganz am Anfang ihres Katzenlebens von einem Varietézauberer gelernt, bei dem sie ausgeholfen hatte. Dieses Schloss hier schien über einen ähnlichen Federmechanismus zu verfügen. Doch so sehr sie sich bemühte, die Feder mit Holzstückchen oder Knochensplittern kleiner Tiere herunterzudrücken, jeder Versuch misslang. Nach kurzer Zeit musste sie mit überdehnten Handgelenken aufgeben. Sie brauchte Draht! Ob der Seemann, dem ihre Jacke gehört hatte, so etwas in einer der vielen Taschen aufbewahrte?
    Die Außentaschen waren leer, doch sie hatte Anzejs Geld noch. Das deutete darauf hin, dass der Blutmann sie nur auf Waffen durchsucht hatte. Allerdings nützten ihr die runden Geldstücke hier gar nichts. Wenn sie sich vorbeugte, konnte sie in der versteckten Brust-Innentasche das Kartenspiel spüren, das gegen ihr Schlüsselbein drückte. Vielleicht kam sie an das Feuerzeug, das sie vor einigen Tagen bei den Karten verstaut hatte? Doch so sehr sie sich auch verrenkte, sie kam nicht an die Tasche heran.
    Als ihr Entführer am ersten Abend endlich einen Rastplatz für die Nacht gefunden hatte - eine Höhlung am Fuß eines Felswegs, die einmal als Werkzeuglager gedient

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