Ascheherz
erwiderte er trocken. »Namen sind doch so wichtig für dich.«
»Ich kenne deinen verdammten Namen nicht! Ich weiß nur, dass wir uns schon einmal begegnet sind, auf einem Richtplatz. Aber ich weiß nicht, wann - und auch nicht, was wir …«
Sie prallte zurück, als er aufsprang und auf sie zustürzte. Sie wusste nicht, was schlimmer war: Die Klinge so nah, dass sie das Metall riechen konnte, oder sein Blick.
»Du lügst!«, schrie er. »So viele Jahre und du lügst immer noch!«
Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich lüge nicht!«
»Dann sag meinen Namen!«
Jetzt war das Messer so nah, dass sie es nicht mehr scharf sehen konnte. Sie spürte nur die Kälte der Klinge und konnte seine schnellen, stoßweisen Atemzüge sehen, weißer Nebel, der vor seinem Mund verwehte. Ist er wahnsinnig? Wenn er wahnsinnig ist, ist jetzt schon alles verloren.
»Indigo?«, flüsterte sie. Es war der einzige Name aus ihrer Erinnerung, der ihr einfiel.
Die Klinge sank herab. Der Blutmann richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Er war hochgewachsen, größer als Anzej, und sicher auch stärker. Sie hatte erwartet, dass er seinen ganzen Zorn an ihr auslassen würde, doch dieser Mann vor ihr wirkte wie das Opfer eines Diebes, überrumpelt und ratlos.
»Ich erinnere mich an nichts mehr«, sprudelte sie heraus. »Ich war verletzt und habe mein Gedächtnis verloren. Das Erste, was ich weiß, ist, wie ich aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen wurde. Es hatte ein Erdbeben gegeben, in der Stadt Telis. Sie haben mich aus einem Loch im Fundament des Hauses gezogen. Ich war dort eingeklemmt und sie mussten viele Stunden lang Steine wegschaffen, bis sie mich bergen konnten. Niemand in der Stadt wusste, wer ich bin. Sie … sie haben Steckbriefe aufgehängt und nach Leuten geforscht, die mich kennen, aber bei der Polizei meldete sich niemand. Ich weiß nicht, wer ich bin.« Sie schluckte krampfhaft und fügte leiser hinzu: »Manchmal … träume ich von dir. Du hast ein Schwert. Und immer willst du … mich töten.«
»Du hast mich getötet!«, herrschte er sie an. »Tausendmal und mehr. Bei jedem Tod schwor ich mir, dass du für diesen Verrat bezahlen wirst.«
Jetzt war sie es, die ihn fassungslos anstarrte. » Ich habe dir etwas angetan?«
Seine Hand schnellte auf sie zu. Sie schrie auf. Grob packte er ihr Kinn und hob es an, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Der Geruch des Handschuhleders rief sofort wieder die Erinnerung an den Überfall in Maymara wach. Spätestens jetzt hätte sie gewusst, dass er es wirklich war.
»Du willst mir wirklich weismachen, du weißt nichts mehr? Nichts ?«
In seinem Griff konnte sie nicht einmal nicken. So hielt sie seinem prüfenden Blick einfach stand und hasste sich dafür, dass sie sich die Blöße gab, vor ihm zu weinen. Jede Sekunde dehnte sich zu einer Unendlichkeit. Dann ließ er sie abrupt los, richtete sich auf und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Aufgewühlt, mit rotgeränderten Augen stand er da und schien um eine Entscheidung zu ringen. Eine Sekunde hatte Summer die Hoffnung, dass sie vielleicht doch den Hauch einer Chance hatte, zu entkommen. Im selben Augenblick stieß er einen Fluch aus und schüttelte den Kopf.
»Noch einmal falle ich nicht darauf rein«, knurrte er. »Nicht auf dich und nicht auf deine Spiele.«
Das Pferd, das an einem Baum angebunden war und bisher mit aufgestütztem Huf gedöst hatte, hob den Kopf und spitzte beunruhigt die Ohren. Kein Zweifel, aus der Ferne hörte man Kampflärm. Vielleicht Explosionen.
»Du … du wirst nicht davonkommen«, stammelte Summer. »Ich war nicht allein bei dem Angriff. Ich reise mit Lord Teremes’ Offizieren. Sie werden mich suchen.«
Sein Lachen klang so zynisch, dass Summer fröstelte.
»Deine Freundin mit der Schachbrettweste? Mach dir keine Hoffnungen, dass sie mich ein weiteres Mal mit einer Kugel erwischt.«
»Wenn sie nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt tot.«
»Und damit hätte ich dem Kerl, den du völlig eingewickelt hattest, sicher einen Gefallen getan. Aber auch so habe ich ihm ein schlimmes Schicksal erspart. Er sollte mir auf Knien danken.«
Wieder war von fern Geschützfeuer zu hören. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung schob er plötzlich das Messer in eine Lederscheide, die an seinem Oberschenkel festgeschnallt war, und ging zum Pferd. Gewonnene Zeit! Vielleicht würde sich ja doch eine Möglichkeit ergeben, zu fliehen. Wenn sie nur wüsste, wo sie war! Jetzt
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