Ascheherz
Das Stück war ohnehin nur billiges Schmierentheater.«
Summer ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte vorgehabt, ruhig zu bleiben, aber jetzt konnte sie nicht anders, als ihm entgegenzuschleudern: »Was haben Mort und die anderen dir getan? Mort hat im Theater gelebt. Unter dem Dach. Und er war sicher nicht schnell genug, um vor einem Feuer zu fliehen. Bedeutet ein Menschenleben dir überhaupt nichts?«
»Noch weniger als dein Leben«, kam die Antwort. »Und das will etwas heißen.«
Sie schnellte hoch und spürte kaum, wie die Seile in ihre Handgelenke schnitten. »Mörder!«, schrie sie ihn an. »Bestie!«
Er lachte leise auf. »Na also. Das klingt doch schon eher nach dir. Du kannst dich verstellen, aber verleugnen kannst du dich nicht. Weißt du was? Ich glaube dir kein Wort deiner rührseligen Geschichte vom großen Vergessen.«
Summer hielt den Atem an, als er aufstand und auf sie zukam. Kurz sah sie seinen Umriss im Mondlicht, dann verschluckte der Schatten ihn wieder. Doch diesmal wich sie nicht zurück. Plötzlich erklang seine Stimme links von ihr.
»Du spielst dein Spiel mit mir«, raunte er ihr zu. »Du weißt genau, was du mir angetan hast. Mir und wer weiß wie vielen anderen auch. Nehmen wir nur deinen blonden Schönling. Hast du ihm auch sein Leben gestohlen?«
»Ich habe dir dein Leben nicht gestohlen! Wenn das, was ich träume, wahr ist, dann lebst du schon länger, als du es verdienst.«
Und damit war sie zu weit gegangen. Sie spürte es, noch während sie die Worte sprach. Im nächsten Moment traf ein Stoß gegen die Schulter sie so heftig, dass sie zu Boden ging. Sein Zorn war beinahe greifbar, ein blau glühender Wirbel am Rand ihrer Wahrnehmung, der ihr den Atem nahm. Einen panischen Augenblick war sie sicher, dass er sie schlagen würde oder - noch schlimmer - dass er gerade das Messer zückte. Instinktiv krümmte sie sich zusammen. Aber nichts geschah. Nur die Dunkelheit zwischen ihnen schien zu brodeln. Als er wieder zu sprechen begann, hörte sie an seinem Tonfall, wie viel es ihn kostete, ruhig zu bleiben.
»Du kannst mich anlügen, so viel du willst«, zischte er. »Aber merk dir eines, verspotten lasse ich mich von dir nicht!«
Schritte knirschten auf Kies und trockenem Laub. Seine Gestalt erschien am Höhleneingang - eine Silhouette vor dunklem Grau. Er blieb stehen und wandte sich noch einmal zu ihr um. »Apropos
Lüge, warum solltest du ins Nordland zurückkehren, wenn du dich tatsächlich an nichts erinnerst? Ach, und noch etwas: Nenn mich nie wieder Indigo!«
Anfangs versuchte sie noch, Zeichen zu hinterlassen. Im Gehen hob sie einen Stein auf und brachte Kratzer als Wegmarkierungen am Felsen an. Einmal gelang es ihr, ein paar der Münzen, die sich immer noch in Anzejs Matrosenjacke befanden, herauszufischen und als Wegweiser auf den Boden fallen zu lassen. Doch die Elstern waren schneller als ihre Freunde und das Gebiet, durch das ihr Entführer sie schleppte, war so unbewohnt und zerklüftet, dass sie die Hoffnung, Farinn oder die anderen würden sie hier suchen, schon bald aufgab . Also allein mit dem Albtraum , dachte sie niedergeschlagen. Vergeblich versuchte sie, die zweite Wirklichkeit herbeizurufen. Aber es war, als hätte es Anzej und die Begegnung mit Noret niemals gegeben. Seit der Nacht in der Höhle wagte sie nicht mehr tief zu schlafen, sondern dämmerte lediglich dahin und schreckte beim kleinsten Geräusch hoch - nur um dann wieder diesen finsteren, prüfenden Blick auf sich zu spüren. Er sprach nicht mehr mit ihr, doch oft spürte sie, wie genau er sie beobachtete.
An dem Tag, an dem die Felsspalte deutlich breiter wurde, entdeckte sie unter rotem Herbstlaub Eisenbahnschwellen. Offenbar wanderten sie an einer stillgelegten Bahnlinie entlang. Der Weg durch die Felsen war dafür geschlagen, aber nicht vollendet worden. Fieberhaft suchte sie in ihrem Gedächtnis die Karte ab, doch sie erinnerte sich nur an Farrins Worte über eine geplante Transportlinie vom zweiten Fjord aus zur Stadt Kars. Wenn das
die Linie war, bewegten sie sich auf den mittleren der drei großen Fjorde zu. Immerhin führte der Weg sie nicht zur Zitadelle.
Wasserplätschern ertönte in der Nähe - ein Bach unter einem Felsvorsprung. Der Blutmann steuerte darauf zu, sprang vom Pferd und führte es zum Ufer. Summer blieb nichts anderes übrig, als dem Tier zu folgen. Doch das Seil war lang genug, dass sie nicht ins Wasser waten musste wie der Rappe, der erst mitten im Bachlauf
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