Ascheherz
Blut in ihren Adern noch kälter werden.
»Fang auf!«, rief er und warf ihr sein Messer zu. Es zuckte auf sie zu und es war ein Wunder, dass sie es am Griff fing, als sie es ohne nachzudenken aus der Luft fischte.
»Jetzt bist du die Stärkere. Also töte mich, wenn du dich traust!«, sagte er und breitete die Arme aus. Seine Pelzjacke klaffte auf, darunter klebte nur noch der nasse Hemdstoff auf seiner Haut. »Das willst du doch, oder?«, setzte er herausfordernd hinzu. »Und wer weiß, vielleicht warte ich ja nur darauf?«
Na los! , sagte die Frau im weißen Kleid und lachte. Und obwohl irgendeine andere Stimme in ihr schrie, dass es ein Fehler war, riss Summer das Messer hoch und schnellte los. Sie spürte das Knirschen von halb gefrorenem Moos unter ihrem Fußballen, als sie sich abstieß und sich auf ihn stürzte. Natürlich war er schneller. Und natürlich hatte auch die Frau in Weiß es gewusst. Seine Hand schoss vor und entwand ihr das Messer, bevor sie die Bewegung richtig wahrnahm. Doch Summer ergriff mit der anderen Hand blitzschnell sein Seil. Er war zu überrascht, um sie von sich zu stoßen, als das Seil seinen Nacken zwang, sich nach unten zu beugen. Dann war sein Mund ganz nah. Und Summer wusste
nicht mehr, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Sie wurde ganz und gar zu der Frau in Weiß, klammerte sich mit all ihrer Kraft an ihn - und küsste ihn.
Was mache ich da?, schoss es Summer durch den Kopf. Ich will ihn doch gar nicht töten, ich … Doch es war zu spät. Ihre Lippen lagen auf den seinen, und so sehr sie auch versuchte zurückzuweichen - die Frau in Weiß umschlang seinen Hals und seinen Nacken so fest, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Es hatte nichts, gar nichts mit dem zu tun, was zwischen ihr und Noret geschehen war. Es hatte nichts Dunkles, Machtvolles. Es glich einem schäumenden Meer aus Rot, dessen Wogen Summer mit sich rissen und in denen sie zu ertrinken drohte. Der nächste Schock war die Erkenntnis, dass auch die Frau in Weiß ihn überhaupt nicht töten wollte.
Zu ihrem Entsetzen umarmte der Blutmann sie nach der ersten Überraschung und zog sie an sich. Um ihr das Messer in den Rücken zu stoßen?
Doch stattdessen … erwiderte er den Kuss voller Leidenschaft und Verzweiflung. Alles, was sie je über sich zu wissen geglaubt hatte, verglühte in einem Sog aus Farben und Erinnerungsflackern. Es waren nicht die Bilder seines Lebens, die sie wahrnahm - so wie es bei Noret gewesen war. Es waren ihre! Ihr Herz spielte verrückt und ihre Knie sackten weg, doch der Mann, den sie nicht töten wollte, hielt sie umfangen, während die Klinge seines Messers flach zwischen ihren Schulterblättern lag. Und dann konnte sie nicht anders, als den Kuss, der plötzlich zu ihrem gemeinsamen geworden war, zu erwidern. Staunend nahm sie wahr, dass sie in seinen Armen zu jemand anderem wurde. Nun war sie
Summer im weißen Kleid, stark und arrogant wie eine Kriegerin, hinterhältig und feige wie eine Diebin, eine Frau, die Angst hatte und kämpfen konnte, die liebte und lachte und tanzte. Sie versank in seinem Kuss und trank die Vergangenheit von seinen Lippen wie eine Verdurstende, und es waren Erinnerungen an …
… einen Wintertag, als er versuchte, ihr mit einem Degen eine Finte beizubringen und sie sich schließlich lachend im Schnee küssten. Flocken in seinem Haar und …
… seine Haut, die nach dem Rauch von Zedernfeuern einer vergangenen Zeit duftete und nach einer Handvoll …
… blauer Winterblüten, die er unter seinem Hemd trug, um sie ihr zu schenken.
… seine Hände, ohne Handschuhe, Finger, die auf den Saiten einer Gitarre tanzten, und seine Stimme, die von zwei Menschen in einem Kartenhaus sang. Und auch …
… seine Narben auf den Händen, eine leichte Unebenheit unter ihren Lippen. Und die Zartheit, mit der …
… seine Hand nun über ihre Wange strich, als sie sich zögernd aus diesem Kuss lösten. Das Leder des Handschuhs war warm auf ihrer Haut, und sie schmiegte die Wange in seine Hand. Irgendwo in einem Winkel ihres Selbst wusste sie, dass sie sich vor seinen Händen gefürchtet hatte, aber sie verstand nicht mehr, warum. Sie sah nur seine Augen: Das Grau wie von hellem Felswasser, in dessen Untiefen das Grün von Wasserpflanzen und Geheimnissen leuchtete. Da war kein Hass mehr, nur ein Schmerz, so viel älter als ein Menschenleben, der sie traurig machte.
Sie strich über die Narbe an seinem Jochbein und entfachte damit für einen Moment ein Lächeln in
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