Ascheherz
staunend umsah, erkannte sie, dass sie durch einen von Menschenhand geschaffenen Tunnel galoppierten. Durch ein Loch in der Wand fiel Sonnenlicht und der Schatten einer Weide. Das war die Abkürzung, über die er mich eingeholt hat , dachte sie. Er ist mitten durch den Wasserfall geritten.
Dann hatten sie diese zerfallene Stelle des Tunnels schon passiert und tauchten in das Halbdunkel eines endlos scheinenden Gangs. Erst nach einer ganzen Weile ließ der Blutmann das Pferd langsamer werden, bis es schließlich in einen erschöpften, aber nervösen Schritt fiel. Erst jetzt merkte Summer, dass sie am ganzen Körper zitterte.
»Was war das?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Tierläufer?«
»Nein. Tandraj«, murmelte er. »Sie leben dort, wo es Wasser gibt - in den Felshöhlen der Fjorde. Normalerweise bekommt man sie nie zu Gesicht. Und wenn, dann sind sie harmlos. Aber gegen dich haben sie offensichtlich etwas.«
Summer schwieg. Immer noch hielt er sie fest - sein Arm um ihre Taille. Sein Atem, der über ihre Wange streifte - und kein Herz .
Viele Hufschläge lang rang sie mit sich, um ihm die Frage zu stellen, deren Antwort sie vielleicht gar nicht wissen wollte. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie zu feige war. Zu feige, aus seinem Mund zu hören, dass du in der Vergangenheit vielleicht nicht das einzige Opfer warst?
»Du … hast das Theater nicht niedergebrannt«, sagte sie stattdessen leise.
»Warum zum Henker sollte ich wohl unschuldige Leute töten oder ihnen das Haus über dem Kopf abbrennen?«, erwiderte er unwillig. Seine Hand an ihrer Taille ballte sich zur Faust. Und sie spürte eine Kluft zwischen sich und ihm, die so breit war, dass vier Menschenleben nicht ausgereicht hätten, um sie zu überbrücken. Es kostete sie unendlich viel Mut, ihn wieder anzusprechen. »Ich bin zwar nicht an deinen Narben schuld. Aber daran, dass … dein Herz nicht mehr schlägt?«
Das Pferd stoppte abrupt und schüttelte unwillig den Kopf, als sie sich wieder in die Mähne krallte. Der Blutmann schob sie von sich und sie wehrte sich nicht, als sie aus dem Sattel glitt. Scharfkantiger Kies drückte in ihre Fußsohlen. Das Pferd nutzte seine Chance und brachte sofort mit einigen Seitwärtsschritten genügend Abstand zwischen Summer und sich.
Der Blutmann gab ihr keine Antwort. Im Halbdunkel des Tunnels war er nicht viel mehr als ein Schemen.
»Wir … haben uns geliebt, nicht wahr?«
»Ich habe dich geliebt.«, antwortete er mit rauer Stimme. » Du hast mich nur verraten.«
Summer biss sich auf die Unterlippe. Und auf ihren Schultern wurde die Last einer alten Schuld unendlich schwer. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Und ich wünschte, ich wüsste noch etwas davon. Aber ich erinnere mich an … eine Gitarre und die blauen Blumen, die du unter deinem Hemd versteckt hattest und …«
»Hör auf.« Diesmal war es kein Befehl. Schmerz ließ seine Stimme leise klingen und fand sein Echo in ihrer eigenen Brust.
Er schwieg so lange, dass sie für einige Sekunden daran zweifelte, dass er überhaupt noch hier war und sie nicht nur mit einem Hirngespinst sprach.
»Wohin willst du mich bringen?«, fragte sie in die Stille.
»An einen Ort, den du kennst.«
»Einen Ort, an dem wir glücklich waren?«
Sie konnte spüren, dass dieser Satz ihn traf. Ein blauer Glanz von Trauer lag plötzlich auf der Dunkelheit.
»Und was dann?«, fragte sie weiter. »Willst du an mir Rache nehmen? Für eine Tat, an die ich mich nicht erinnere?«
»Ich will keine Rache«, antwortete er heiser. »Ich will mein Herz zurück.«
Sie sprang zurück, als das Pferd losstürmte. Kies und scharfkantige Flintsteine spritzten unter den Hufschlägen auf und trafen ihre Wange und Schulter. Sie erschrak und wartete schon darauf, dass gleich die Fesseln an ihren Handgelenken sich spannen und sie von den Füßen reißen würden, dass sie stürzen und über den Kies geschleift würde, doch dann fiel ihr ein, dass sie ja gar keine Fesseln mehr trug. Sie sah das Blitzen von Funken, die die Hufeisen aus dem Boden schlugen, und konnte es nicht fassen. Er ließ sie gehen?
Der Galoppschlag entfernte sich, wurde zu Trab, dann zu Schritt, bis das Pferd schließlich stehen blieb. Summer spannte sich an, um wegzulaufen, doch diesmal verfolgte er sie nicht. Sie konnte sein Warten spüren, Vibrationen in der Luft, flüchtige Bilder wie Spiegelungen, die in der Dunkelheit zwischen ihnen zitterten und vergingen. Und sie begriff, dass er ihr zum
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