Ascheherz
ersten Mal tatsächlich glaubte.
Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen. Machte einen Schritt. Und noch einen. Blieb unschlüssig stehen.
Es fühlte sich zumindest nicht verkehrter an, als wieder zu fliehen. Sie suchte nach dem Hass, den sie gestern noch verspürt hatte. Und fand ihn nicht mehr.
Vorsichtig setzte sie sich wieder in Bewegung, bis ihre Schritte ein wenig sicherer wurden. Kies wisperte unter ihren Sohlen, aber offenbar hörte er gut genug, um zu wissen, in welche Richtung sie ging. Und sobald sie ein Stück aufgeholt hatte, setzte auch das Pferd seinen Weg im Schritt fort.
elfenbeinmund
S ie fürchtete sich vor dem Moment, in dem sie ihm wieder bei Licht in die Augen sehen würde. Vielleicht ließ sie deshalb den Abstand so groß werden, dass sie nur noch dem fernen Hufschlag folgte wie eine Blinde. Er bat sie nicht, schneller zu gehen, und nach einer Weile glaubte sie, dass er sogar froh darüber war. Sie war zu weit weg für Fragen. Als der Hufschlag abrupt aufhörte, schreckte sie aus ihren Grübeleien auf, doch dann sah sie, dass er lediglich den Tunnel verlassen hatte. Mittagslicht machte das Ende des Tunnels zu einem gleißenden Tor in die Unendlichkeit, so als würde sie durch das falsche Ende eines Fernrohrs blicken. Ein leuchtendes Miniaturbild: das weiß gefleckte Grün einer Wiese, auf der die Schneeschicht dahinschmolz; und dahinter das tiefe Kobaltblau des Nordmeers. Der Blutmann zeichnete sich davor ab - ein schwarzer Reiter aus ferner Vergangenheit. Als hätte er ihren Blick gespürt, zügelte er das Pferd und wartete auf sie. Summer senkte den Kopf und betrachtete ihre Füße, die immer noch nicht froren, und drehte den kleinen Katzenkopf in ihrer Hand, fieberhaft nach den richtigen Worten suchend.
Sie war so darin versunken, dass sie das Geräusch erst nicht erkannte. Ein scharfer Hall inmitten von fernem Möwenkreischen. Sie blieb stehen. Ein Warnruf, nein, Gebrüll. Und ein weiterer …
Schuss? Ein schrilles Wiehern ertönte, dann galoppierte das reiterlose Pferd wie ein Schattenriss vor dem Tunnelausgang vorbei. Weitere Schüsse fielen - und Summer begann zu rennen.
Es war wie eine Szene aus einem Albtraum, in dem sie lief, so schnell sie konnte, aber kaum von der Stelle kam. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Kehle und jeder Atemzug schmerzte, und dennoch schien der Tunnelausgang keinen Meter näher zu rücken. Nur die Geräusche wurden lauter. Stimmengewirr, ein gebrüllter Befehl. Und als sie endlich sehen konnte, was sich draußen abspielte, flüchtete sie sich sofort in den Schatten im Schutz des Tunnelrandes. Links von ihr: Hufspuren und aufgewühlte Erde. Und ein paar Meter weiter krümmte sich der Mann ohne Herz in der spärlichen Deckung eines Felsens und versuchte das Gewehr mit nur einer Hand nachzuladen. Die andere hielt er an die Brust gepresst. Blut rann zwischen seinen Fingern hervor und malte rote Muster in den Schnee. Summer schlug die Hand vor den Mund, doch irgendeinen Laut des Entsetzens musste sie von sich gegeben haben, denn er blickte auf und entdeckte sie. Sorge flackerte über seine Züge. »Zurück!«, formte er mit den Lippen. »In den Tunnel!«
Dann wich jede Farbe aus seinem Gesicht, das Gewehr entglitt seinen Händen. Er holte keuchend Luft, sackte zusammen und blieb reglos auf der Seite liegen.
»Erledigt ihn.« Ein sachlicher Befehl, der von rechts kam. Vier Männer. Schwarze Gesichter, schwarzgraue Uniformen. Soldaten der Lady, die nun auf den freien Platz traten. Einer hob das Gewehr. Es blieb keine Zeit für einen Plan oder auch nur einen vernünftigen Gedanken. Nicht einmal für Angst. »Wartet!«, schrie Summer und rannte zu dem Verletzten. Sie ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und packte seinen linken Ärmel. Bei einem
flüchtigen Seitenblick sah sie, dass der rechte Ärmel hochgerutscht war. Der Schreck fuhr ihr durch die Brust, als sie sich an die zweite Tätowierung erinnerte - Lord Teremes’ Lindenblatt -, aber nun entdeckte sie, dass sie verschwunden war.
»Er ist einer von euch!«, schrie sie und schob den linken Ärmel hoch, bis das Lilienzeichen sichtbar wurde. Schwer atmend hielt sie inne. Das war das Dümmste, was du tun konntest, schoss es ihr durch den Kopf. Sie werden uns beide erschießen.
Doch die Wirkung ihrer Worte übertraf alle ihre Erwartungen. Die Waffe sank so schnell herab, als hätte der Soldat sie am liebsten von sich geworfen. Die vier starrten sie an, als hätten sie ein Gespenst gesehen, und
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