Aschenputtel: Thriller (German Edition)
hatte es nur noch eine einzige mögliche Richtung gegeben, nämlich vorwärts.
Einige Artikel fand Alex weniger ärgerlich als vielmehr interessant, und das waren die Reportagen über den Täter. Einige Zeitungen hatten gründliche Nachforschungen angestellt und sich Zugang zu Hintergrundinformationen verschafft. Nichtsdestotrotz merkte Alex, dass ausgerechnet die tüchtigsten Journalisten nicht recht wussten, welche Stellung sie beziehen sollten. Es war unmöglich, die tragische Geschichte von Aron Steen zu erzählen, ohne gleichzeitig auch einen Unterton des Verständnisses mitschwingen zu lassen. Keine Entschuldigung, versicherten sie unermüdlich, aber doch Verständnis.
Eigentlich war Aron einer von denen gewesen, die niemals eine Chance gehabt hatten, dachte Alex verbittert. Schon als Säugling war er von seiner geisteskranken Großmutter misshandelt worden, die dann ein Jahr ums andere darauf verwandt hatte, seine Persönlichkeit klein zu machen, seine Auffassung von richtig und falsch zu verdrehen und zu verhindern, dass er auch nur einen Hauch von Empathie zu empfinden lernte. In der Schule war er tagaus, tagein in denselben schmutzigen Klamotten und mit finsterer Miene aufgetaucht. Er hatte nach dem Zigarettenrauch seiner Großmutter gestunken, und die anderen Kinder hatten ihn gehänselt und ihn als » Großmutters kleines Mädchen« verhöhnt. Sie waren der Meinung gewesen, er sei so mager und langhaarig, dass man gar nicht erkennen konnte, ob er ein Junge oder ein Mädchen war. Die schlimmsten Plagegeister hatten sich vom Rauchgestank und seinem verschmutzten Aussehen inspirieren lassen und ihn Aschenputtel genannt.
Der Junge hatte fünfzehn Jahre alt werden müssen, ehe das Jugendamt endlich eingriff und ihn in einer Pflegefamilie unterbrachte. Die Großmutter hatte ihm unverwunden die Schuld am Tod seiner Mutter gegeben, ihrer Tochter, und vor dem Jugendamt erklärt, dass sie sich im Leben nicht vorstellen könnte, dass einer wie er sich zu einer normalen und funktionierenden Person entwickelte.
Zu Anfang hatte es den Anschein gehabt, als hätte Aron Steens Großmutter sich getäuscht. Aron schaffte das Abitur, studierte Psychologie und zog von zu Hause aus. Doch es gab Warnzeichen. Seine Grundschullehrerin erinnerte sich daran, dass er schon als kleiner Junge große Befriedigung darin gefunden hatte, Tiere zu quälen. Es fiel ihm schwer, Freunde zu gewinnen und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dennoch war er eloquent und nach außen gewandt. Als Erwachsener wurde er als gut aussehend betrachtet, was seine soziale Anbindung stärkte.
Allerdings konnte er sich nur schwer in unterschiedliche Arbeitsvorgänge einordnen und musste wieder und wieder den Arbeitsplatz wechseln. Er zog immer wieder um– eine unruhige Seele.
Zu dem Zeitpunkt, als er Nora kennenlernte, war er gerade wieder zurück in Umeå, wo er aufgewachsen war und jetzt im Krankenhaus arbeitete. Die Zeitschriften berichteten, dass die Trennung von Nora eine Art psychotischen Zustand bei ihm ausgelöst haben musste, denn unmittelbar danach suchte er mitten in der Nacht seine alte Großmutter auf und verbrannte sie in ihrem Bett bei lebendigem Leib.
Der Rest war, wie man so schön sagt, Geschichte. Kürzlich erst hatte Alex mit den Eltern des Jungen gesprochen, den Aron Steen zuletzt entführt hatte. Der Junge erholte sich langsam. Seine Verletzungen waren wesentlich schwerer als die von Alex, aber er lebte. Die Eltern waren unendlich dankbar dafür. Die Zeit musste zeigen, ob der Junge dieselbe Dankbarkeit empfinden würde.
Aber auch wenn es ihnen letztlich gelungen war, den Täter zu identifizieren, waren doch viele Fragen unbeantwortet geblieben. Unklar war beispielsweise nach wie vor, wo genau Aron die Kinder ermordet hatte. Lilian war vermutlich in Jelenas Wohnung getötet worden und Natalie in Arons eigener Wohnung, doch das konnten sie nicht beweisen. Auch warum Nora ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ermordet worden war, konnten sie sich nicht mit letzter Gültigkeit erklären. Jelena Scortz hatte jedenfalls behauptet, von der Sache nichts zu wissen.
Sie war aus dem Krankenhaus entlassen worden, saß inzwischen im Untersuchungsgefängnis Kronoberg und wartete auf ihren Prozess. Sie bestritt alle Anschuldigungen, doch sie hatten ausreichend technische Beweise sicherstellen können, die bestätigten, dass Lilian in ihrer Wohnung gewesen war. Man hatte in einer Tüte im Müllschlucker die Unterhose des Mädchens gefunden, doch Jelena
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