Aschenputtelfluch
Aufprall. Meg stand neben uns. Gleich da rauf folgte ihr Danny und Minuten später waren auch Indi und Pink zurück.
»Okay«, sagte Pink außer Atem, »jetzt ihr.«
Nikolaj wartete auf mich.
Meine Hände berührten die kalte Mauer.
»Du kannst das!« Ich spürte seine Finger auf meinem Rü cken. Es war nur eine leichte Berührung, doch sie fühlte sich so vertraut an, als besäße Nikolaj die Fähigkeit des Handauflegens.
Plötzlich hörte ich Megs Stimme, die auf einmal seltsam boshaft klang. »Lass sie, wenn sie nicht will.«
»Jeder kriegt diese Chance.«
»Kapier doch, Prinz«, zischte nun auch Pink. »Sie hat Schiss! Sie geht auf Nummer sicher in dem, was sie tut. Sie ist eines dieser Beamtenkids, dieser Kängurubabys, die nie den Beutel ihrer Mami verlassen.« Das »Mami« machte mich wütend. Ziemlich wütend.
Ich biss die Zähne zusammen und riss mich zusammen. Schaltete die Vernunft aus.
Mein rechter Fuß hatte kein Gefühl, als ich ihn aufsetzte, und die Hände rutschten an der kalten, feuchten Mauer ab.
»Mach einfach dasselbe wie ich.« Ich beobachtete, wie sich Nikolajs Füße in eine kaum wahrnehmbare Mauerrit ze schoben. Dann zog er sich nach oben. Vor Anstrengung stieß er Luft aus.
Ich tat es ihm nach. Schritt für Schritt. Zentimeter für Zentimeter. Es war einfacher, als ich dachte. Es gab genü gend Vorsprünge, an denen ich mich festhalten konnte.
Ich spürte die Höhe nicht. Hatte kein Gefühl dafür, wie weit oben wir bereits waren. Es war auch egal. Ich wusste, er könnte schneller sein, doch er wartete auf mich.
Wir kamen erst ins Stocken, als Nikolaj kurz aufschrie.
»Was ist?«
»Nichts«, erwiderte er, aber ich spürte: Etwas war nicht in Ordnung. Er hing mit den Händen am Fenstersims, die Füße steckten in Mauerritzen und er bewegte sich nicht weiter.
»Alles in Ordnung, Nick?«, flüsterte Meg von unten
»Geht schon. Habe mich nur am Ellbogen aufge schrammt.«
»Sei vorsichtig!« Meg klang besorgt.
»Ich sage doch, es geht schon.«
»Aber bitte leiser«, murrte Bastian. »Du weckst ja die To ten auf dem Friedhof auf.«
Meine Hände zitterten vor Aufregung. Ich fand kaum Halt.
»Übertreib nicht«, flüsterte Nikolaj einen halben Meter entfernt. »Es geht erst mal nur darum, dass du das Material spürst, dich mit ihm vertraut machst.«
»Sie kann’s nicht«, hörte ich erneut Meg. »Sie kapiert nicht, dass sie eins werden muss mit der Wand.«
Eins werden mit der Wand, wie stellt die sich das vor, schoss mir durch den Kopf und: Was mach ich hier eigent lich? Bin ich total bescheuert? Wenn man uns erwischt, dann fliege ich vom Internat. Dann ist das Stipendium futsch. Dann muss ich zurück und jeden Tag Laras Grinsen ertragen.
Doch ich ließ nicht los, sondern folgte Nikolajs Anweisungen: »Genau! Rechter Fuß, noch einen Millimeter weiter nach rechts und dann presse die Fußspitze in den Spalt, ja, perfekt. Und deine Hände dort oben in den Vorsprung.«
Er hatte recht. Meine Finger fanden eine Ritze. Ich zog mich hoch. Für wenige Sekunde hing ich in der Luft und fühlte mich plötzlich, ich weiß nicht, irgendwie leicht.
Nikolajs Stimme klang plötzlich anders, aufgeregt, fast euphorisch: »Stell dir vor, irgendwann stehen wir dort oben auf dem Dach und fühlen uns wie der König der Welt.«
Hat sich Kira auch so gefühlt, schoss es mir durch den Kopf. War sie vorher schon einmal dort oben gewesen? Hatte sie diesen Ort für ihren Tod gewählt, weil er ihr ver traut war? Weil sie sich hier oben mutig und stark gefühlt hatte? Doch das würde ich vermutlich nie erfahren.
Aus diesen Gedanken wurde ich durch ein unheimliches Flattern gerissen. Im nächsten Moment erschien über mir ein dunkler Schatten und senkte sich auf mich herab.
Etwas streifte meinen Kopf.
Ich stellte mir vor, wie ein großer Vogel sich in mein Haar krallte, und sah den spitzen Schnabel vor mir. Wie er begann, auf mich loszuhacken.
Ich schrie auf.
»Mann, willst du das ganze Haus zusammenschreien?« Meg war jetzt total wütend.
Ich klammerte mich fest, sah mich verzweifelt nach Ni kolaj um – doch er war verschwunden. Etwas weiter unten sah ich eine dunkle Gestalt in Richtung Boden gleiten.
Wieder dieses Flattern.
Ich ließ los und fiel.
Wie hoch war ich gewesen? Nicht so hoch wie Nikolaj, aber zwei Meter mit Sicherheit.
Unwillkürlich versuchte ich, mich zu drehen, versuchte, den Boden zu erkennen, aber ich sah nur Dunkelheit. Das konnte nicht gut gehen. Ich hörte schon meine
Weitere Kostenlose Bücher