Aschenputtelfluch
hier.
Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe.
»Wer fängt an?«, fragte Bastian.
»Ich und Nick«, bestimmte Meg.
Nikolaj rührte sich nicht von der Stelle.
»Okay, Nick?« Sie trat an seine Seite.
»Ich gehe mit Jule«, erwiderte er, »es ist besser, jemand zeigt ihr gleich den richtigen Weg.«
Plötzlich herrschte eisiges Schweigen. Meg wandte sich abrupt von ihm ab.
»Dann eben du, Danny!«, bestimmte sie.
»Macht schon«, meinte Bastian ungeduldig.
»Kann ich mit dir?«, fragte Sonja an Bastian gewandt.
»Wenn du willst, Prinzessin!«
Er zündete sich eine Zigarette an und hielt Sonja die Schachtel entgegen. »Auch eine?«
»Klar.«
Über ihrem Gesicht lag nun ein Ausdruck, als hätte sie eine heiße Nacht mit ihm verbracht. Wäre es nicht dunkel gewesen, ehrlich, sie hätte geglüht wie dieses Totenlicht.
»Wir machen das heute für Kira, okay!«, meinte Meg. Sie entfernte sich einige Schritte von der Wand und bevor ich noch begriff, was sie vorhatte, hatte sie bereits Anlauf ge nommen und war wie eine Katze die Wand hochgesprun gen. Wenige Augenblicke später kletterte sie nach oben. Danny folgte ihr. Sie wartete, bis er sich auf derselben Hö he befand, und nun bewegten sie sich gleichmäßig und fast synchron die Wand der Kirche nach oben. Einen Mo ment später hingen beide an einem Mauervorsprung in Höhe der ersten Fensterreihe, wenige Sekunden danach standen sie auf dem schmalen Dach der Seitenkapelle. Die zwei sahen von unten aus wie Riesenspinnen, die in der Dunkelheit die Wand hochliefen, weil niemand sie störte. Ich legte den Kopf in den Nacken. Irgendwo dort oben musste sich der Glockenturm befinden. War das ihr Ziel? Mein Atem stockte und mir wurde nur vom Zusehen schwindelig. Und im nächsten Moment verschluckte sie die Nacht.
»Mein Gott!«, murmelte ich beeindruckt. »Gibt’s da keinen einfacheren Weg, wenn man unbedingt aufs Dach will?«
Nikolajs Lachen hallte in der Nacht wieder. »Doch, im In nern gibt es eine Treppe, von der aus führt eine Dachklap pe direkt zum Glockentürmchen.«
»Wäre einfacher, oder?«
»Meg ist Spiderwoman. Sie nimmt nie den einfachsten Weg.«
»Warum seilt sie sich nicht an?«
»Free solo, das heißt volles Risiko.«
»Was, wenn sie fällt?«, jammerte Sonja leise.
»Sie fällt nicht«, hörte ich Nikolaj. Er stand dicht neben mir. »Sie ist die Beste. Weißt du, was sie als Erstes hochge klettert ist in ihrem Leben?«
»Einen Baum?«
»Nein, einen Hochspannungsmast.«
»Wahnsinn!« Ich schnaufte tief durch. »Das ist doch sau gefährlich!«
»Genau.«
»Sie spielt mit ihrem Leben.«
»Wir alle tun das doch. Jeden Tag.«
Wie Kira, dachte ich. Aber ich sprach es nicht aus.
»Jetzt kommen wir«, hörte ich Indi. Im nächsten Moment berührten seine Hände die Wand, Sekunden später schwebte er über dem Boden. Pink war auf gleicher Höhe mit ihm. Auch sie bewegten sich in demselben Rhythmus.
»Aber das ist Wahnsinn!«
»Das ist nichts. In New York klettern sie Hochhäuser hoch und die Freiheitsstatue. Also, versuchst du es?«
»Klar.«
»Und dann wir«, sagte Bastian zu Sonja.
»Ich kann das nicht!«, Sonja klang bereits wieder weiner lich.
»Sie hat Höhenangst«, erklärte ich.
»Hätte sie auch früher sagen können. Sie wollte doch un bedingt mitkommen«, murmelte Bastian ungeduldig.
»Okay«, Sonja beherrschte sich mühsam, »ich schaffe das!« Ich musste mich zusammennehmen, um nicht mit den Augen zu rollen. Sonja würde augenscheinlich alles tun, nur um den richtigen Leuten zu gefallen.
»Nicht gefährlicher als Autobahnfahren, Prinzessin«, sag te Bastian jetzt und Sonjas kummervolle Miene erhellte sich plötzlich. Offensichtlich ging ihre Strategie auf.
Und ich?
»Keine Sorge«, hörte ich Nikolaj dicht neben mir. »Du schaffst das. Du hast die richtige Statur fürs Klettern. Meg meint, du hast Talent. Sie täuscht sich nie!«
Es war dunkel, aber ich hatte das Gefühl, er sah mich an.
»Meinst du?«
»Klar, bei den langen Beinen.«
Lange Beine. Er hatte meine Storchenbeine bemerkt. War das gut oder schlecht?
»Aber wenn du willst, seilen wir dich an.«
»Nein! Wozu habe ich die langen Beine? Zu irgendetwas müssen die ja nützlich sein!«
Wieder lachte er. Ich hörte ihn gerne lachen. Es klang wie Musik. Nicht Rap, Techno, Heavy Metal oder Hip-Hop. Nein, irgendeine schnulzige Ballade.
Zwei Schatten glitten die Wand herunter, abermals in atemberaubender Geschwindigkeit, und kurze Zeit später hörte ich einen
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