Aschenputtels letzter Tanz
zerbrechlich und blass.
Plötzlich drängt mich ein Arzt energisch zur Seite. »Du musst jetzt das Zimmer verlassen«, sagt er ungeduldig und schließt hinter mir die Tür.
Sofort führt Billy mich den Gang hinunter, in einen Raum, der wohl ein Wartezimmer ist, aber außer uns ist niemand hier. Wie ein Sack Mehl plumpse ich auf den unbequemen blauen Plastikstuhl, wo ich mit brennenden Augen regungslos sitzen bleibe.
Nach einer Weile drückt mir jemand einen Becher Tee in die Hand, der fürchterlich nach Pappe schmeckt.
Mir gehen unzählige Dinge durch den Kopf: dass ich Edgar und Tennessee frisches Wasser geben muss, dass Schneewittchen im Märchen eigentlich vergiftet wurde; ich frage mich, ob Elsa jetzt nie wieder Sandalen tragen wird und ob sie die Eisprinzessin kennt – das alles wirbelt in einem bunten Strudel aus Bildern durcheinander.
Als das laute Ta-tamm meines Herzens selbst diesen Gedankenstrom übertönt, frage ich Billy misstrauisch: »Was haben Sie eigentlich im Moor gemacht?«
»Habe ich das nicht schon gesagt?«
Ich weiß es nicht mehr.
»Ich habe vor ein paar Jahren die alte Schäferei aufgekauft, die noch hinter dem Grundstück deiner Großmutter liegt.«
»Ich dachte, da kommen nur noch Felder …«
»Das war viele Jahre so, aber es wurde jemand gesucht, der sich um das Moor kümmert. Das nachwachsendeGehölz muss entfernt werden. Die Schafe helfen mir dabei, die Vegetation kurz zu halten.«
Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass das Moor Hilfe braucht. Es war doch schon immer da.
Als könne er meine Gedanken lesen, erklärt er: »Es gibt nicht mehr viele Hochmoore bei uns, deswegen müssen wir uns um die restlichen kümmern.«
»Aha«, sage ich und sehe zur Tür, durch die noch immer niemand gekommen ist.
Wie viel Zeit wohl vergangen ist? Ich stelle den halb leeren Becher auf den Boden unter den Stuhl. Die Sohlen meiner Stiefel quietschen auf dem Linoleum, während mein Schatten sich zu meinen Füßen krümmt und zittert. Billys dagegen wirkt groß und selbstbewusst und an der Stelle, die sein Knie abbildet, berührt sein Schatten meinen.
Ich rücke ein Stück ab.
»Du musst keine Angst vor mir haben«, sagt er leise mit tiefer Stimme, »wer immer das auch getan hat, ich war es nicht. Es war Zufall, dass ich gerade dort im Moor unterwegs gewesen bin. Wegen des Schafes …«
Möglich.
Zum ersten Mal sehe ich ihn mir genauer an. Er ist ungefähr in Mutschs Alter und auf so eine altmodische Art gut aussehend. Kinnlange braune Locken, die im Licht der Neonlampen glänzen, einfaches helles Baumwollhemd und schwarze Cordhose. Er hat schmutzige Hände. Ist es wirklich nur Erde, die an ihnen klebt?
Ohne zu blinzeln, starre ich nach unten und bin mir seiner Nähe überdeutlich bewusst, denn ich kann seine Schuhe neben meinen sehen, genauso schlammbespritzt. Von der Tür aus führen Dreckspuren zu uns.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Ich nicke, denn meiner Stimme traue ich nicht.
Mutsch sagt immer, man kann das Böse nicht an seinem Äußeren erkennen – aber vielleicht das Gute? Vielleicht an der Art, wie er mich jetzt ansieht, offen und scheinbar ernsthaft besorgt?
»Die Polizei wird dir ein paar Fragen stellen wollen«, erklärt er. »Das Krankenhaus hat sie informiert, sie werden irgendwann hier sein und auch den Tatort untersuchen.«
Darauf kann ich nichts erwidern und wieder schweigen wir. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so sitzen, etwas später beginnt Billy auf und ab zu gehen wie die eingesperrten Großkatzen im Zoo. Ein paar Mal geht er auf den Gang hinaus, doch ich bleibe, wo ich bin, die Tür im Blick, die blauen Stühle rechts und links neben mir an der Wand wie Raben auf einer Oberleitung aufgereiht. Jedes Mal, wenn er zurückkehrt, bringt er mir etwas anderes mit, das ich auf den Platz neben mir lege und nicht anrühre. Eine Zeitung, einen Schokoriegel; einmal höre ich ihn auf dem Gang mit jemandem reden, der ihn fragt, an welcher Stelle im Moor er das Mädchen gefunden hat. Mit gepresster Stimme erklärt er, dass ich es war, die das Mädchen als Erste gesehen hat, und wodie Polizisten mit ihrer Suche beginnen müssen. Sie sollen sich an meine Großmutter wenden und von dort aus ins Moor gehen. Daraufhin entbrennt ein Streitgespräch, denn er will nicht, dass sie mich jetzt befragen. Er sagt: in meinem Zustand .
Ich weiß nicht, was er damit meint, aber als ich auf meine Finger schaue, die sich in den Stoff der Hose gekrallt haben, komme ich mir selbst ein
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