Aschenputtels letzter Tanz
dem Gang höre ich sie jedoch sagen: »Du kannst mich mal …«, bevor ihre Worte undeutlich werden, weil sie durch die Flügeltür gegangen ist.
Frustriert verziehe ich mich ins Wohnzimmer, dort steht wenigstens ein Fernseher.
Doch als ich ins Zimmer komme, sitzt Tante Luise an dem alten Sekretär und hält vollkommen erstarrt ein Blatt Papier in der Hand. Sie sieht mich auch nicht an, als ich »Hallo« sage, deshalb gehe ich zu ihr und sehe ihr über die Schulter. Sie hält ein Foto von Elsa in der Hand. Vor ihr auf der Arbeitsplatte liegen noch weitere neben einer Fotobox, die früher mal eine Schachtel Pralinen war. Alle Bilder zeigen Elsa beim Tanzen. Als kleines Mädchen bei ihren ersten Trainingsstunden und dann später bei den Aufführungen mit ihrem Ensemble. Es istauch eines dabei, als sie ihre bandagierte Hand in die Kamera hält. Damals hatte sie sich nach einem verunglückten Sprung den kleinen Finger gebrochen.
Es tut weh, die Bilder anzusehen. Vor dem dunklen Bühnenhintergrund strahlt sie beinahe und die Schwerkraft scheint für sie nicht zu gelten.
Als die Schwanenprinzessin noch fliegen konnte.
Nur langsam hebt Tante Luise den Blick. Ihr Gesicht ist ausdruckslos und um den Mund haben sich tiefe Falten eingegraben. An diesem Abend hat sie so große Ähnlichkeit mit Großmutter, dass es mich ein bisschen erschreckt.
»Ich habe auch eines von deiner Mutter«, sagt sie völlig zusammenhanglos und erhebt sich.
Aus einer Box in der Regalwand holt sie ein weiteres Foto, das sie mir entgegenhält. Es ist schon ein bisschen verblasst und eine Ecke ist abgeknickt, aber trotzdem kann man die Personen, die darauf abgebildet sind, noch gut erkennen. Es sind sie und Mutsch, wie sie an einer beschmierten Häuserwand stehen. Die Aufnahme ist ein bisschen verschwommen, weil sie beide lachen und sich nach vorne beugen und ihre langen Haare sich um die Köpfe bauschen. Da waren sie beide noch jung, mich hat’s zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gegeben.
Sie stehen so dicht beieinander, dass sich ihre Schultern berühren, und mir fällt auf, wie hübsch Tante Luise aussieht. Sie wirkt überhaupt nicht steif oder streng und ähnelt Großmutter viel weniger als jetzt. Wildes braunesHaar, das T-Shirt über die linke Schulter gerutscht und ein breites Grinsen im Gesicht.
Sie sieht aus wie eine Abenteurerin. Wie Mutsch.
»Was ist nur passiert?«, flüstert sie und lässt sich wieder auf den Stuhl fallen. Zitternd greift ihre Hand nach dem Bild von Elsa, das ganz oben auf dem Stapel liegt, aber ich weiß nicht, ob sie wirklich den Überfall meint oder noch etwas anderes.
»Elsa hat alle bezaubert, weißt du noch?« Sie sieht mich traurig an. »Du hast sie doch auch ein paar Mal gesehen, oder?«
»Ja.«
»Das war ein Talent, wie es sie nicht viele gibt. Wusstest du, dass sie nächstes Jahr auf die Ballettschule in Lausanne gehen sollte? Die Rudra-École, die berühmteste Ballettschule in Europa …«
»Nein, davon hat sie nichts erzählt.«
»Doch, doch, sie hat alle Prüfungen bestanden. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Mit einem Abschluss von dort hätten ihr alle Türen offen gestanden.«
Aber dann hätte sie auch nicht mehr zu Hause gewohnt, sie wäre ins Internat gekommen. War es wirklich das, was Elsa wollte? Ich kann mir nicht vorstellen, meine Freunde und Mutsch zu verlassen. Seltsam, dass sie nie davon geredet hat.
»Vielleicht hätten wir Elsa nicht so drängen sollen«, sagt Onkel Gerhard unvermittelt in die Stille hinein, undich drehe mich zu ihm um. Er steht mit blassem Gesicht in der Tür. »Dann würde sie die Sache jetzt nicht so treffen. Ich war ja dagegen, dass Elsa nächstes Jahr auf die Rudra-École in Lausanne kommt, aber deine Tante hat sich durchgesetzt«, sagt er zu mir. »Sie ist der Meinung gewesen, dass Elsa nur auf diese Weise ganz an die Spitze kommt, und eure Großmutter hat sie darin auch noch bestätigt. Und nun spielt das alles keine Rolle mehr. Ich kann mich an alle unsere Streits deswegen erinnern, aber jetzt …« Er macht eine hilflose Handbewegung und Tante Luise sieht ihn verächtlich an.
»Ja, wenn es nach dir gegangen wäre, dann hätte unsere Tochter ihr Talent in irgendeiner kleinen Tanzschule verschwendet.«
In die aufgeladene Stille, die auf seine Worte folgt, bricht plötzlich Mutschs erlösendes »Gehen wir rüber?« vom Gang herein, und dankbar nutze ich die Chance zur Flucht. Mit einem genuschelten »Nacht« über die Schulter gehe ich
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