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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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– geschah nichts.
    Ich wachte wieder auf. Traumlos. Doch in meinem Bauch und in meinem Herzen hatte sich das Gefühl eingenistet, dass heute die Welt untergehen würde. Das Wetter draußen passte dazu – es regnete in Strömen aus einem düstergrauen Himmel. Ein Gefühl hatte von mir Besitz ergriffen, dass etwas Schlimmes geschehen würde, und es war so übermächtig, dass es mir nicht gelang, aufzustehen. Ich blieb wie gelähmt im Bett liegen und starrte an die Decke. Was war nur los! War doch alles gut! Ich hatte eine ruhige Nacht, der Kakao duftete. War heute vielleicht der Tag, an dem ich sterben sollte? Irgendwo hatte ich mal gehört, dass es Menschen gibt, die morgens wissen, dass an diesem Tag ihr Tod bevorsteht. Dieses Wissen sitzt ihnen wie ein zotteliges Ungeheuer auf der Brust, drückt sie ins Bett und raubt ihnen den Atem. Würde ich heute sterben? Irgendetwas saß auf meiner Brust. Aber was? Warum hatte ich das Gefühl, gleich losheulen zu müssen, warum fühlte ich mich so unglaublich niedergeschlagen?
    Die Erkenntnis fuhr wie der Blitz in meine Glieder und ließ mich in meinem Bett hochfahren, trotz dem zotteligen Monster. Manche Menschen ahnen den Tod eines geliebten Menschen … Anne! Etwas stimmte nicht mit ihr. Sie war immer noch nicht zurückgekehrt und hatte sich noch nicht einmal bei mir gemeldet. So etwas würde sie nicht tun, nicht in meiner Lage. Sie würde mich nicht noch einmal so im Stich lassen.
    Hatte sie unser gemeinsames Traumerlebnis so verstört, dass sie gegangen ist, ohne mir was zu sagen? Das musste es sein. Sie ist im Traum gestorben, auf grausamste Weise. Und da Anne seit einiger Zeit das gleiche träumte wie ich, hatte sie ihren Tod ganz bestimmt miterlebt. Aber wohin ist sie gegangen? Warum ist sie nicht bei mir geblieben? Ich musste etwas tun. Ich musste Anne finden. Und zwar so schnell wie möglich. In meiner Vorstellung saß sie einsam in einer dunklen Ecke, völlig verängstigt und orientierungslos. Vielleicht sogar irgendwo hier in der Klinik!
    Ich zog mich an und klingelte nach der Schwester. Ob es mir gut gehe, wollte sie wissen.
    Â»Ja ja, alles prima. Ich will mir nur mal kurz die Beine vertreten, ich brauche Bewegung, am besten an der frischen Luft, sonst werde ich tatsächlich noch verrückt.«
    Â»Aber es regnet!«
    Â»Grade gut, das liebe ich.«
    Sie genehmigte mir eine Stunde und nahm mir das Versprechen ab, dann spätestens wieder hier zu sein, da ich dann einen Termin bei Uschasnik hätte. Ich sagte zu, obwohl ich nicht wusste, ob ich es einhalten konnte, was mir in diesem Moment allerdings unwichtig war. Ich musste Anne finden, nichts anderes zählte.
    Unten in der Empfangshalle erschrak ich, als meine Eltern durch die gläserne Eingangstür traten. Ich konnte mich gerade noch verstecken. Dr. Uschasnik nahm sie in Empfang und bat sie, auf einer kleinen, von Kübelpflanzen umgebenen Sitzgruppe Platz zu nehmen. Ich schlich mich so nah wie möglich an sie heran, weil ich wissen wollte, was sie zu bereden hatten. Alle drei hatten äußerst ernste Gesichter, meine Eltern waren kreidebleich, und mein Vater hielt meine Mutter fest, als könnte sie ohne seine Hilfe nicht gehen. In meinem Magen wurde es abwechselnd heiß und kalt. Ich schlich mich näher an sie heran, konnte allerdings durch den Lärm, den die anderen Menschen in der Empfangshalle veranstalteten, nur Bruchstücke erhaschen. Aber diese Bruchstücke genügten, dass mein Blut in den Adern aufhörte zu fließen. Sie redeten über mich. Und über Anne.
    Nun hatte ich die Gewissheit: Anne war etwas zugestoßen. Der Boden unter mir kippte weg, so wie die gesamte Empfangshalle. Ich konnte mich noch halbwegs an einer der Pflanzen festhalten, riss diese aber mitsamt dem überdimensionierten Topf unter lautem Getöse auf den Steinboden. Augenblicklich waren mehrere Leute bei mir. Auch meine Eltern und Dr. Uschasnik. Ich sah sie wie durch einen milchigen Schleier, ihre entsetzten Gesichter, panisch, erschrocken, hektisch. Ich wurde auf eine Trage gepackt, nachdem ich mich nach mehrmaliger Ansprache weder rührte noch etwas sagte. Ich war erstarrt, und alles war so unwirklich. Ich konnte sehen, wie sie redeten, hörte aber nur ein stumpfes Murmeln, als hätte mir jemand Stöpsel in die Ohren gesteckt. Sie trugen mich in den Aufzug, durch die Flure in mein Zimmer. Meine Mutter war die

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