Aschenwelt
verrückt. Sie nahm ihr Telefon, klickte sich durch die überschaubare Liste ihrer Kontakte, schaute sich Nadeschdas Namen an und legte das Gerät wieder weg. Sie sollte lernen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Einen Brief schreiben. Ja, das hatte sie schon einige Zeit nicht mehr getan. Es gab auch nichts zu erzählen. Aber jetzt schon. Vielleicht half ihr das, Klarheit in ihr Gedankenwirwar zu bringen. Sie kramte ihr Briefpapier aus den Tiefen ihrer Stapel auf dem Schreibtisch hervor und suchte ihren Füller, prüfte die Tintenladung und begann zu schreiben.
Liebe Anne!
Ich hab lange nichts von mir hören lassen. Entschuldige bitte. Es gab einfach nichts, was ich Dir neues berichten konnte. Bis jetzt.
Ich habe jemanden kennengelernt. Nadeschda heiÃt sie. Eine schöne Frau, nett, lustig, interessant und ziemlich verrückt. Sehr verrückt. Aber das gefällt mir, das weiÃt Du ja. Bin ja selbst nicht das, was man als normal bezeichnen würde.
Nadeschdas Augen sind von einem tiefen Schwarz, kohlschwarz, oder rabenschwarz, aber das trifft es alles nicht. Hab noch nie so schwarze Augen gesehen. Und sie versprühen eine Freude am Leben, wie ich sie lange nicht gespürt habe. Sehr lange. Aber in ihnen liegt auch eine Traurigkeit. Ich sehe das. Wer, wenn nicht ich.
Ich war gestern mit ihr auf einem Konzert und danach die ganze Nacht bei ihr. Morgens hat sie mir Frühstück ans Bett gebracht und mir ein Nutellabrötchen geschmiert, ganz so als kannte sie mich schon mein ganzes Leben. Und genau dieses Gefühl hatte ich übrigens auch, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Kennst Du bestimmt, dieses dumpfe Gefühl, jemanden schon einmal irgendwo gesehen zu haben, obwohl es nicht sein kann. Ich weià auch nicht. Ich bin, ja, ich glaube, nein, ich weiÃ!, ich habe mich verliebt. So richtig. Wie damals. Aber ich hab Angst davor, dass nichts daraus wird. Heute fragte sie mich zum Abschied, ob wir uns nochmal treffen sollen. Und ich weià jetzt nicht, wie sie das gemeint hat. Will sie mich nochmal treffen? Oder hat sie mich gefragt, ob ich sie überhaupt nochmal treffen will? Sehr seltsam das Ganze.
Aber sie hat ja recht. Ich hab echt Angst davor, mich auf eine Beziehung einzulassen. Vielleicht hat sie das ja bemerkt ⦠Gott, ich weià doch gar nicht, ob Nadeschda das überhaupt will!
Ich bin immer noch so sehr mit der Vergangenheit beschäftigt. Jeden Tag. Ich muss mich jeden Tag aufs Neue dafür entscheiden, ob ich den Kampf wieder aufnehmen will. Keine Drogen mehr, nicht mehr in Scheinwelten abdriften, im Hier und Jetzt sein. Das kostet alles so viel Kraft! Aber das weiÃt Du ja, ich hab Dir das schon so oft erzählt.
Aber diese Kraft fehlt mir dann für eine Beziehung, verstehst Du? Ich hör Dich schon: Jo! Die Liebe gibt dir Kraft, sie kostet keine! Vielleicht hast Du ja Recht. Nicht nur vielleicht, ich weiÃ, dass es so ist.
Aber das ist es ja nicht nur. Wenn es nur das wäre! Was ist, wenn ich nochmal so etwas erleben muss wie damals? Dass auch Nadeschda einfach geht und nie wieder zurück kommt? Das könnte ich nicht ertragen. Das wäre mein Tod, ganz sicher. Und ich will doch leben! Sonst würde ich nicht jeden Tag aufs Neue kämpfen. Vielleicht sollte ich es gar nicht soweit kommen lassen und Nadeschda einfach vergessen?
Ich weiÃ, schon lange weià ich das, dass irgendwann der Tag kommt, an dem ich jemanden kennenlerne. Das hast Du mir immer wieder gesagt, auch wenn ich nicht daran geglaubt habe. Bis jetzt. Und, ja, ewig alleine leben geht nicht, das stimmt schon. Und Kevin ist zwar prima und hilft mir so viel, dass ich ihm gar nicht dankbar genug sein kann. Auch wenn es Tage gibt, wo er mir gehörig auf die Nerven geht.
Nadeschda. Vielleicht ist sie ja doch die Richtige. Vielleicht auch nicht. Ich weià es einfach nicht. Verrücktes Huhn ist die. Ach, ich weià nicht.
Ich halte Dich auf dem Laufenden!
Fühl Dich gedrückt und geküsst
Deine Jo
Jo faltete den Brief, ohne ihn vorher auf Rechtschreibfehler geprüft zu haben, steckte ihn in einen Umschlag und legte ihn in ihre Schreibtischschublade, zu all den anderen nie abgeschickten Briefe an Anne.
Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete still aus und ein. Dann nahm sie ihr Telefon. Keine Nachricht von Nadeschda. Den ganzen Tag schon nicht. Nur einige Blödsinnsnachrichten von Kevin, die sie getrost unbeantwortet löschen
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