Aschenwelt
sie lange und heftig auf den Mund küsste, wobei sie beide in den Sand fielen und sich weiter küssten. Nach Atem ringend lieÃen sie schlieÃlich voneinander ab und blickten durch die Ãste in den Himmel hinauf. Jo beobachtete die Wolken, die hier unten am Fluss viel schneller ihre Bahnen zogen als in der Stadt. Zumindest schien es so.
»Schön hier«, meinte Nadeschda.
Jo nickte nur. Es war schön hier, ohne Zweifel. Aber es gab hier viel zu viel, was sie an Anne erinnerte. Der Sand, auf dem sie damals immer saÃen und kleine bunte Windräder um ihren Platz herum steckten, deren leises Surren sich mit dem Brummen des Hafens verband. Das blaue Wasser, das manchmal dem Meer ähnelte, aber nur, wenn ein Schiff vorüberfuhr und Wellen ans Ufer warf. Anne und Jo träumten sich dann fort in fremde Länder, als Piratinnen auf groÃem Beutezug. Der blaue Himmel darüber mit den geschäftig dahineilenden Wolken. Und Anne und sie.
»Sollen wir Steine springen lassen?«, schlug Nadeschda vor.
»Siehst du hier irgendwo Steine?«
Nadeschda blickte sie an. »Stimmt irgendwas nicht?«
Jo schüttelte den Kopf und kämpfte einige Tränen nieder, die hervorbrechen wollten.
»Irgendwas hast du. Du schaust so traurig drein.«
»Es ist nichts.« Jo schniefte.
»Komm her.« Nadeschda beugte sich zu ihr herüber und nahm sie in den Arm. »Sollen wir woanders hin?«
Jo nickte in Nadeschdas Schulter hinein.
»Na komm.« Nadeschda stand auf, reichte Jo eine Hand und zog sie auf die Beine. Sie lieà ihre Hand nicht los und führte Jo auf dem schnellsten Weg in die Stadt hinein und steuerte das erste StraÃencafé an. Dort setzte sie Jo auf einen Stuhl, nahm an ihrer Seite Platz und bestellte zwei Cappuccinos.
»Willst du mir erzählen, was dich gerade so traurig gemacht hat?«, fragte sie.
»Sorry, ich hab uns den ganzen Tag versaut«, sagte Jo.
»Hey, jetzt mach dir doch keine Vorwürfe!«
»Es ist so, da unten an der Elbe erinnert mich zu vieles an damals. Und das macht mich fertig. Ich weià nicht mal, ob es die Erinnerungen sind, die mich so quälen oder die Tatsache, dass ich immer noch so sehr in der Vergangenheit festhänge und einfach nicht loslassen kann. Obwohl ich weiÃ, dass ich das tun muss. Ich lebe jetzt. Hier und jetzt. Was war ist vorbei. Und jetzt habe ich sogar noch das Glück, dich kennengelernt zu haben. Und es ist so unfair gegenüber dir, was ich da mache.« Sie schluchzte und kämpfte dagegen an, laut loszuheulen, nicht vor all den Leuten hier.
»Was plagt dich denn so? Was ist denn damals geschehen?«, fragte Nadeschda.
»Ich will dich nicht damit belasten«, sagte Jo. »Und«, sie zögerte einen Moment, »ich hab auch Angst davor, dass dann wieder alles hochkommt. Das will ich nicht. Davor habe ich eine Riesenangst.«
»Also, ich studier ja nun nicht Psychologie«, sagte Nadeschda. »Aber ist es nicht kontraproduktiv, Dinge einfach zu verdrängen?«
»Ich hab nichts verdrängt!« Jo hatte ihre Stimme etwas zu sehr erhoben. »Was glaubst du«, fuhr sie gedämpfter fort, »warum ich in tausend Therapien war?«
Nadeschda hob abwehrend die Hände.
»Entschuldige«, bat Jo. »Ich wollte dich nicht anschreien.«
»Hey, schon gut«, sagte Nadeschda.
»Es ist nur so, dass ich eigentlich alles meide, was mich auch nur im Entferntesten an damals erinnert. Es macht mich fertig. Und manchmal kann ich einfach nicht mehr.« Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und lieà sie einfach laufen.
Nadeschda rückte ihren Stuhl näher zu ihr, legte ihren Arm um sie und streichelte ihr durch die Haare, so lange, bis Jos Tränen versiegt waren. Jo gab ihr einen Kuss. »Danke.«
»Nicht dafür.« Nadeschda lächelte sie an.
»Du musst dir doch denken, was für eine verrückte Tuss du dir da angelacht hast«, sagte Jo und zog die Nase hoch.
Nadeschda reichte ihr ein Taschentuch.
»Nein«, sagte sie. »Ich hab da schon viel Verrücktere gehabt.« Sie lachte. »Und ich finds gut, dass du ein bisschen schräg ins Leben gebaut bist. Bin ich ja schlieÃlich auch.«
»Danke«, wiederholte Jo. »Und ich meine es wirklich so. Danke, dass es dich gibt.«
Sie zuckte zusammen.
»Was ist los?« Nadeschda erschrak.
»Mein Telefon.« Jo wühlte in ihrer Tasche und
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