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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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sagte ich mit gedämpfter Stimme, um ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen, »was ist da drin? Es könnte sehr wichtig sein.«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber weißt du, wie man sie aufbekommt? Weißt du, wo der Schlüssel dazu ist?«
    Nate sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.
    »Ja. Es gibt einen Zweitschlüssel an meinem Motorradschlüsselbund.«
    Ich riss die Augen auf. Das war zu absurd! Nate hatte diese Schatulle für Kolor gemacht, und nach all der Mühe, die wir uns gemacht hatten, um sie zu öffnen, stellte sich nun heraus, dass der Schlüssel immer in Reichweite gewesen war.
    Ein heftiger Schmerz in der Brust ließ Nate aufschreien, er beugte sich vor.
    »Nate!«
    Ich legte einen Arm um ihn und führte ihn zum Sofa, damit er sich setzen konnte.
    »Was ist?«, fragte ich besorgt, während ich ihm die Haare aus dem Gesicht strich.
    »Ich spüre, dass ich gleich verschwinde …«
    »Nein!«, flüsterte ich.
    »Ich bin zum Schloss gegangen, um sie ihm zu bringen, und da bin ich gestorben … Au!«
    »Was?« Ich war so voller Sorge, dass ich mich nicht konzentrieren konnte.
    »Die Schatulle. Ich wollte sie Kolor bringen. Dann bin ich gestorben. Zur Hälfte gestorben.«
    Mit Mühe hob er den Kopf und sah mich an. In seinem Blick lag Liebe. Die gleiche Liebe, die gleiche unbändige Zuneigung wie in meinen Augen.
    »Ich weiß nicht, ob dein Vater mich umgebracht hat …«
    »War Ludkar dabei, als du Kolor getroffen hast?«, fragte ich schnell.
    »Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Nate schwach. »Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Was vor zwanzig Jahren passiert ist, ist nicht mehr von Bedeutung, man kann es nicht mehr ändern. Wichtig ist, dass es keine weiteren Toten gibt. Dass diese Blutlinie ein für alle Mal unterbrochen wird.«
    Mit letzter Kraft hob er die Hand und legte sie auf meinen Mund. Seine warmen Finger liebkosten meine Haut. Es war der Moment, den ich mir so sehnsüchtig herbeigewünscht hatte. Unvollkommen, wie alle wichtigen Momente.
    Unsere Gesichter näherten sich einander fast unmerklich. Ich ließ zu, dass er mich an sich zog.
    Gleich würde ich diese wundervollen, sinnlichen Lippen küssen.
    Mein Herz klopfte.
    Es schlug für mich und es schlug für ihn, für Nate, der kein Herz mehr hatte.
    Unsere Lippen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt.
    Ich zitterte. Mein Rücken kribbelte vor Aufregung, ich hätte fast geweint.
    Wie Blüten öffneten sich unsere Münder. Ich konnte seinen keuchenden Atem spüren.
    Ich würde einen grauen Engel küssen.
    Unsere Lippen berührten sich kaum.
    Genau in diesem Moment wehte ein kalter, erbarmungsloser Windstoß durch das Fenster und zerstörte den Traum.
    Die letzten Flammen, die auf den Holzstümpfen im Kamin tanzten, erstarben wie Trugbilder.
    Und aus meinen Armen, vor meinen Augen, flog Nate mit einem herzzerreißenden Schmerzensschrei davon.
    Mitgerissen von der Bö entfernte sich sein Blick immer weiter und verschwand schließlich ganz. Mein Junge kehrte zurück und wurde wieder zu einem Aschehauch.
    Schreiend streckte ich die Arme nach ihm aus, um ihn aufzuhalten.
    Aber dem Staub konnte man nichts entgegensetzen. Nate wurde zu einer kleinen, grauen und unberührbaren Wolke, die durchs Zimmer schwebte.
    Als der Wind nachließ, fiel sie langsam zu Boden.
    Für eine Weile hatte ich durch die Tränen hindurch, die meinen Blick trübten, das Gefühl, dass ich es war, die sich auflöste. Dass mein Fleisch unter Qualen verbrannte.
    Ich kauerte mich aufs Sofa, umschlang meine Beine und weinte. Ich weinte wie nie zuvor.
    So blieb ich sitzen, ohne zu spüren, dass der Schmerz nachließ.
    Ich saß noch immer so da, als Charles kam und mich in den Arm nahm.

Charles würde nie erfahren, wie sehr mir seine Umarmung in diesem Moment geholfen hatte. Er würde nie erfahren, wie nah ich mich ihm gefühlt hatte, denn es war eine väterliche Umarmung gewesen.
    »Julia ist in Sicherheit«, sagte er sanft, weil er wohl dachte, meine Tränen flossen aus Sorge um sie.
    Und zum Teil war es auch so.
    »Ich habe sie zu ihrer Schwester gebracht. Dort bleibt sie, bis sich alles wieder beruhigt hat«, fuhr er fort. »Und Sally ist in einer Pension außerhalb der Stadt. Du musst dir also keine Sorgen machen.«
    »Ludkar hat versucht, uns zu töten«, flüsterte ich. »Dieser Typ ist ein Monster! Er hat vor unseren Augen zwei Menschen umgebracht.«
    Charles strich mir über den Kopf.
    »Ich werde auch dich weit wegbringen.«
    »Nein! Wir müssen

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