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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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sich die beiden treffen konnten.
    Ein paar Minuten lang warf ich weitere Blumen ins Feuer. Mir taten die Augen weh, weil ich so lange hineingestarrt hatte, immer in der Hoffnung, endlich eine Gestalt auftauchen zu sehen.
    Es funktionierte nicht. Ich wollte schon wieder aufstehen und das Feuer löschen, als ich zwischen den Flammen einen Schatten sah.
    Die Asche um die Holzscheite herum begann aufzufliegen und sich in der Mitte zwischen den züngelnden Flammen zusammenzuklumpen. Dort entstand etwas.
    Zuerst eine Hand, dann ein Körper und schließlich ein Gesicht.
    »Nate!«, schrie ich.
    Er kroch durchs Feuer aus dem Kamin. Er war in der Welt angekommen.
    »Nate!«, sagte ich wieder und beugte mich vor.
    Ich wusste nicht, ob ich ihn berühren konnte. Ich hatte Angst, dass er sich wie im Cinerarium einfach auflösen würde.
    Er kniete auf dem Boden, die Haare fielen ihm ins Gesicht und er zitterte. Er hustete und spuckte Ruß. Es musste eine traumatische Erfahrung sein, durch das violette Feuer zu gehen. In der Luft schwebte noch ein wenig Asche, die sich allmählich auf ihn herniedersenkte und seinen Körper vervollständigte. Ein Körper, der echt zu sein schien, von dem ich aber wusste, dass er nur aus Staub bestand.
    Ich hörte, wie er tief atmete. Ganz langsam rappelte er sich auf.
    Ich tat es ihm gleich. Auch ich stand auf und sah ihn an, während er den Kopf hob.
    Er sagte kein Wort.
    Die tausend Farben seiner Augen waren verschwunden, sie waren grau, ohne Abstufungen. Und traurig. Tieftraurig.
    Er stand einfach da und sah mich an wie ein orientierungsloses Tier. Dann drehte er den Kopf und betrachtete das Zimmer.
    »Das hier«, flüsterte er, »das hier kenne ich.«
    Ich schluckte.
    »Es ist dein Haus. Hier hast du früher gewohnt.«
    »Mein Haus … Ja, ich erinnere mich.«
    Er machte einen Schritt nach rechts.
    »Hier war ein kleiner Tisch«, sagte er und hob ganz leicht den Arm. »Und hier … hier auf diesem Regal standen Trophäen, die ich bei Sportwettkämpfen gewonnen hatte.«
    Lächelnd ging ich zu ihm.
    »Wir haben es geschafft!«, sagte ich leise.
    Er ließ den Arm wieder sinken und drehte sich zu mir um. Seine weichen Lippen bewegten sich kaum.
    »Danke.«
    Lippen, die ich nie zuvor so sehr hatte küssen wollen.
    »Und kommen sie zurück, die Erinnerungen?«, fragte ich, während ich ihn beobachtete.
    Er trat zu mir und nahm meine Hand ohne Angst, zu verbrennen. Ich schauderte kurz. Aber nichts geschah. Es war wunderbar zärtlich und beruhigend. Seine Haut fühlte sich nicht so echt an wie im Cinerarium, aber seine Berührung sehr wohl.
    »Ja, sie kommen zurück.«
    Ich lächelte ihn an.
    Ich schloss die Augen und legte ihm die andere Hand an den Hals. Er rührte sich nicht und ließ zu, dass ich meinen Kopf gegen seine Brust lehnte. Darin schlug kein Herz, aber ich glaubte fast, das Geräusch seiner brennenden Seele zu hören.
    »Bleib hier bei mir«, sagte ich leise.
    »Ich kann nicht«, erwiderte er betrübt. »Wenn das Feuer erlischt, muss ich wieder gehen.«
    Ich runzelte die Stirn.
    »Ludkar hat versucht, mich zu töten. Ich hatte es dir nicht sagen wollen«, gestand ich und klammerte mich an sein T -Shirt.
    »Ich weiß. Seine Wutschreie erschüttern selbst die Wüste.«
    »Er wird zurückkommen, und ich weiß nicht, wie ich ihn aufhalten soll.«
    Nate sagte nichts, seine Hand glitt von meinem Rücken herab.
    Ich löste mich von seiner Brust, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er starrte auf etwas.
    »Das da«, sagte er unsicher, »das da habe ich gemacht.«
    Ich drehte mich um. Sein Blick war auf die Schatulle gerichtet, die Eisenschatulle, die wir im Schloss gefunden hatten. Charles hatte sie auf dem Wohnzimmertisch stehen lassen.
    »Das hast du gemacht?«, rief ich aus.
    »Ja. Ich habe in einer Werkstatt gearbeitet und Motorräder repariert. Ich habe das gemacht. Aber ich weiß nicht mehr, wozu.«
    »Wir haben sie im Schloss gefunden, wo mein Vater gewohnt hat«, verriet ich ihm.
    »Genau. Ich hatte es für Kolor gemacht.«
    »Dann erinnerst du dich!«
    »Vage … Ja, jetzt erinnere ich mich an ihn. Wir waren Freunde. Ich erinnere mich auch an meinen Vater. Und an meine Mutter … Aber warum hat er mich getötet?«
    Er redete traumverloren, als würde er versuchen, mit einem einzigen Pinselstrich ein riesiges Bild zu malen, das Gemälde seines Lebens.
    Er war ganz anders als der Nate, den ich vor Kurzem noch im Cinerarium gesehen hatte. Er wirkte wie eine farblose Kopie wie ein Geist.
    »Nate«,

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