Ascheträume
getötet.«
Charles seufzte.
Wir sahen uns jeden Brief und jedes Foto ganz genau an.
Nach allem, was ich dort lesen konnte, wurde mir klar, wie mein Vater gewesen sein musste: Sensibel und sanft, genau wie Ray ihn in seinem Roman beschrieben hatte. Ich hielt ihn nicht für fähig, Nate getötet zu haben.
Irgendwann packte Charles mich am Arm und gab mir ein Blatt Papier.
»Lies das!«, rief er.
Der Brief war an meine Mutter gerichtet. Eine Liebeserklärung. Es ging darin um einen Ort, an dem sie zwei Tage verbracht hatten: Moon’s Cave . Mondgrotte.
Mein Vater sprach davon, dass dies die beiden schönsten Tage in all seiner Ewigkeit gewesen seien. Und dass er, wenn er sich einen Ort aussuchen könnte, an dem er für immer bleiben wollte, ganz sicher diesen wählen würde. Denn dort hatte Julia ihm zum ersten Mal gesagt, dass sie ihn liebte.
Dort hatte sie ihm versprochen, für immer bei ihm zu bleiben.
Ich war gerührt. Das Wissen, wie die Beziehung geendet hatte, hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Und der Gedanke, dass ich eines Tages mit Nate das gleiche erleben könnte, erschreckte mich.
»Er ist dort!«, sagte ich mit Bestimmtheit.
Charles nickte.
»Dann lass uns fahren.«
Wir standen auf. Da merkte ich, dass ich etwas vergessen hatte.
»Ich nehme ein paar Iris und ein bisschen Kräutertee mit, wenn es dir nichts ausmacht.«
Charles sah mich verdutzt an.
»Ich habe herausgefunden, dass ich ein Blumen-Vampir bin«, erklärte ich ihm.
Zehn Minuten später saßen wir im Auto und fuhren durch die Stadt. Eine Straßenkarte, die ich nicht lesen konnte, flatterte in meiner Hand, während Leonard mir übers Handy sagte, dass er etwas über die Raffinerie herausgefunden hatte.
»Nein, das ist nicht mehr nötig, Leo, ich glaube, ich weiß jetzt, wo mein Vater ist.«
»Dann kommen wir mit!«, hörte ich Christine im Hintergrund so laut schreien, dass ich das Handy von meinem Ohr weghalten musste.
»Das ist zu gefährlich!«, sagte ich entschlossen.
Als sie sich weiter beschwerten, hatte ich keine andere Wahl, als einen Netzausfall vorzutäuschen.
»Was? Ich höre euch nicht. Was habt ihr gesagt?«
Und ich legte auf.
»Sitzt die Fliege richtig?«, fragte Charles.
»Bitte?«
Ich drehte mich zur Seite und sah, dass er sich vor dem Rückspiegel eine Fliege um den Hals band.
»Nach der langen Zeit, die Kolor und ich uns nicht mehr gesehen haben, möchte ich gut aussehen.«
Ich lächelte. Ich wusste seine Mühe, mich in Sicherheit zu wiegen oder zumindest abzulenken, sehr zu schätzen.
»Wenn ich dieses Ding hier richtig gelesen habe«, sagte ich und drehte die Karte, »müssen wir ungefähr vierhundert Kilometer nach Osten fahren.«
Charles warf einen prüfenden Blick auf den Plan und bestätigte meine Vermutung.
Als er wieder auf die Straße blickte, war seine Gelassenheit wie weggeblasen. Mit quietschenden Reifen bremste er ab, als wäre der Wagen ein Tiger, der seinen Lauf stoppen wollte und seine Krallen in den Asphalt schlug.
Ich wurde nach vorn geschleudert, und der Sicherheitsgurt schnitt mir heftig in die Brust.
Auch andere Autos hielten abrupt an, und ich hörte den einen und den anderen Aufprall.
Als ich wieder zu mir kam, blickte ich in dieselbe Richtung wie Charles.
Wir waren in der Nähe des Hauptbahnhofs, hundert Meter vor uns verlief die Brücke der Hochbahn.
»Raus aus dem Wagen!«, schrie Charles und löste mit einer einzigen Handbewegung seinen und meinen Gurt.
Ich hatte noch nicht begriffen, was los war, als ich bei einem düsteren Grollen den Kopf hob.
Ein Güterzug entgleiste.
Ich sah, wie er die steinerne Begrenzung durchbrach und in einem Funkenmeer in die Tiefe stürzte. Die Schreie der Menschen hallten durch die Luft, bevor er noch auf dem Boden auftraf. Es war ein Tankzug, der Kraftstoff transportierte.
Ich konnte mich nicht rühren.
Charles warf sich genau in dem Moment auf mich, als der Zug in die Bahnhofsmauer krachte.
Sie fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Die Waggons folgten der Lok und rissen einen großen Teil der Hochbahnbrücke mit sich. Stromleitungen stürzten zusammen mit Gleisen und Säulen herab.
Die großen Tankbehälter prallten auf die Erde, ließen Autos in die Luft schnellen und schliffen über den Asphalt. Einige Passanten wurden zermalmt. Vom Grauen gepackt wandte ich den Blick ab.
Gerade als die Sirene des Bahnhofs zu schrillen begann, gab es eine Explosion.
Der hintere Teil des Zuges war noch im freien Fall
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