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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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sicher?«
    »Ja, er hat mir eine SMS geschickt.«
    Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das hier war bestimmt keine Feuerübung. Vor dem Fenster sah man schwarze Wolken.
    Wir eilten aus dem Klassenzimmer.
    An der Decke kräuselte sich Rauch wie ein umgekehrter Bachlauf.
    »Warum setzt diese verdammte Löschanlage denn nicht ein?«, schrie Christine. »O Gott, wenn Leo etwas zustößt …«
    Wir liefen durch die Korridore, stießen die anderen Schüler zur Seite, die den Ausgang suchten wie verrückt gewordene Mäuse. Es herrschte so ein Durcheinander, dass wir Gefahr liefen, zertrampelt zu werden.
    Wir nahmen uns an der Hand, denn wir durften uns auf keinen Fall verlieren. Wir gingen ins Treppenhaus, aus dem Schreie und rötliche Schimmer drangen. Der Brand breitete sich aus.
    »Wir müssen da rauf!«, rief Christine.
    Das Labor war im dritten Stockwerk.
    Wir wollten die Treppe schon wieder hinaufrennen, da packte die Palmer Christine am Arm.
    »Was macht ihr da?«
    Christine stieß sie weg, aber die Palmer ließ nicht locker. Wir wollten ihr das mit Leonard erklären, aber es war zu laut. Ich erinnere mich nur noch, dass ein paar Schüler von hinten kamen und mich an eine Wand drückten. Als ich die Augen wieder aufschlug, war Christine weg. Die Palmer musste sie mitgeschleppt haben. Ich war die Einzige, die von Leo wusste, und ich musste die Treppe hinauf.
    Im dritten Stock waren die Flure fast leer. Die letzten Schüler liefen schreiend an mir vorbei und eilten in die unteren Stockwerke.
    Ich ging schneller und hielt mir einen Ärmel vor den Mund. Die Luft wurde immer stickiger. Durch die Fenster sah ich, dass sich Leute im Garten versammelt hatten. Es kamen ein paar Polizeiautos, aber das konnte mich nicht beruhigen.
    Als ich beim Labor angelangt war, warf ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie flog auf, und ich fiel in den Raum. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie offen war.
    Ich stand auf und blickte in alle Richtungen. Von Leo keine Spur.
    »Leo!«, schrie ich.
    Keine Antwort. Ich ging zum Lehrerpult, weil ich dachte, er habe sich dahintergeflüchtet, aber auch hier war er nicht. Ich sah sonst nichts, wo er sich hätte verstecken können. Wenn er in einem Schrank gewesen wäre, hätte er mich gehört. Vielleicht hatte er entkommen können. Ich war erleichtert, aber gleich darauf wurde mir klar, dass nun ich im dritten Stock gefangen war. Die Flammen würden nicht mehr lange brauchen, bis sie mich erreicht hätten.
    Kaum hatte ich den Saal verlassen, hatte ich das Gefühl, mein Schatten würde sich auflösen, sich von meinen Füßen trennen und seinen eigenen Weg gehen, während ich selbst wie erstarrt dastand und nicht einen einzigen Schritt mehr machen konnte.
    Vor mir war das Inferno, und ihm voraus ging jemand, der aussah wie der Leibhaftige.
    Hinten im Flur, umgeben von Feuer, tauchte die Gestalt auf.
    Reglos.
    Die Kraft dieses Bildes war verheerend. Hypnotisch und schrecklich.
    Es war ein junger Mann.
    Ich sah, wie er die Hand öffnete, einen Finger nach dem anderen. Leos Handy fiel zu Boden und zerbrach. Die Hitze war so groß, dass das Plastik zu seinen Füßen schmolz.
    Er war barfuß.
    Dann hob er langsam den Kopf und sah mich an.
    Er hatte dicke, schwarze Lippen, schwarz waren auch seine Augen, schwarz war seine Existenz.
    Um den Hals trug er einen roten Schal, den ich erst für eine offene Wunde gehalten hatte.
    Er kam auf mich zu.
    Er schwankte leicht und ging gebeugt. Er wirkte beinahe unschlüssig. Lange schwarze Haare mit leuchtend roten Strähnen bedeckten sein Gesicht wie Blutspritzer. Ich sah, wie sich sein schwarzer Mantel bei jedem Schritt bauschte. Das Innenfutter aus rotem Atlasstoff schien zu glühen.
    Als er stehen blieb – als hätte er sich auf einmal an etwas erinnert –, trennten uns zwar noch zehn Schritte. Mir aber kam es so vor, als sei er schon bei mir.
    Aus seinem Gesicht sprach der Wahnsinn. Er zog die Stirn kraus, als könne er seinen eigenen Gedanken nicht folgen. Dieser Mund, der noch nichts gesprochen hatte, dieser breite, schwarze Mund ließ mir den Atem stocken.
    Sein Gesicht sah aus wie eine Maske.
    Er neigte den Kopf, und sein Haar fiel auf die Seite. Er hatte ausdrucksvolle, fein geschnittene Züge, auf eine Weise faszinierend, aber dennoch ungeheuer furchterregend.
    Das Feuer hinter ihm loderte übermächtig.
    Er machte noch einen Schritt. Seine nackten Füße schritten über die Glut.
    Ich regte mich nicht.
    Ich sah, dass sein Rücken brannte.

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