Ascheträume
die er auf mich abfeuerte. Wir waren wie zwei ungehorsame Kinder, aber hier würde keiner kommen und uns sagen, dass wir aufhören sollten. Wir hielten erst inne, als wir vollkommen fertig waren, oder besser gesagt, als ich völlig fertig war, denn Nate hätte wohl noch ewig weitergemacht.
»Ergibst du dich?«, schrie er hinter einer Anubis-Statue hervor.
»Ich ergebe mich, ich ergebe mich!«, erwiderte ich mit erhobenen Händen und bekam prompt einen weiteren Ball ins Gesicht.
»Vielleicht sollten wir etwas Entspannenderes machen, mit Aschepuppen spielen, oder so …«
Nate kam frech lachend aus seiner Deckung hervor.
Genau in diesem Augenblick nahm ich den Ball, den ich hinter meinem Rücken versteckt hatte, und warf ihn auf seine Schulter.
Er blieb stehen und lächelte immer noch. Er bekam seine Grübchen um die Mundwinkel.
»Du hast mich erwischt!«, stellte er fest.
Dann beugte er sich vor und schüttelte die Asche aus seinem schwarzen Haar.
»Ich muss dir etwas zeigen«, sagte er und richtete sich wieder auf. »Ich kann diese Bücher nicht lesen, sie sind in einer Sprache geschrieben, die ich nicht kenne. Aber da gibt es ein Zimmer.«
Auch ich säuberte meine Kleider.
»Ein Zimmer?«
»Los, komm!«
Nate betrat den Säulengang und machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Im Schatten der Arkaden leuchteten seine Augen wie ägyptische Skarabäen.
Er führte mich in einen enorm großen Saal. Das Licht fiel durch Schächte an der Decke und schwebte wie durch Zauberhand im Raum. Jeder noch so kleine Schritt hallte wider wie das Brüllen eines Löwen, und die Wände waren voller Regale mit Papyrusrollen und dicken Büchern.
»Unglaublich«, sagte ich und blickte mich in dieser Landschaft um. Das hier war wirklich alles andere als ein »Zimmer«.
»Lass das jetzt«, sagte Nate kurz angebunden. »Was ich dir zeigen will, ist eine Etage tiefer.«
Wir gingen zu einer schmalen Treppe, bei der ich an einen Geheimgang denken musste. Vielleicht drangen wir in einen verbotenen Bereich der Bibliothek ein.
Wir gelangten in einen engen Gang, der fast vollkommen dunkel war. Nate ging mir voraus und drehte sich immer wieder um. Dabei warf er mir bunt leuchtende Blicke zu, als wollte er sagen: »Wir sind gleich da.«
Irgendwann wurde der Gang breiter, und wir standen vor einer runden Tür.
»Was für ein Bauwerk!«, sagte ich und studierte die Form. »So etwas habe ich noch in keinem Buch gesehen.«
Nate lächelte und trat ein.
Ich folgte ihm.
In dem Raum sah ich nur einen einzigen Gegenstand. Eine Statue, die in der Mitte aufragte und von einem senkrecht herabfallenden Lichtstrahl beleuchtet wurde.
Ich spürte, wie meine Kräfte schwanden und mein Mund trocken wurde.
Die Statue stellte ein Mädchen dar, das ein Buch in der Hand hielt, aber im Unterschied zu unserer Umgebung, und im Unterschied zu allem, was man im Cinerarium finden konnte, waren die Augen der Statue violett.
Sie hatte violette Augen wie ich.
Mir war, als würde jemand mich anpusten, ich erschrak. Es war ein langsamer, sich ausdehnender Schauder, der nicht vorüberging. Er würde nie vorübergehen.
In den Haaren der Statuen erkannte ich zwei Iris, und hinter ihr an der Wand war eine große, untergehende Sonne aufgemalt.
»Ich dachte mir, dass es dir gefallen würde«, sagte Nate mit Blick auf mein Gesicht, in dem sich etwas spiegelte, das weit mehr war als Verwirrung.
Ich sagte nichts. Ich hätte gern etwas gesagt, aber ich tat es nicht. Ich ging zu der Statue, um sie aus der Nähe zu betrachten.
Erst da begriff ich, dass das Buch in ihrer Hand nicht Teil der Skulptur war. Es war echt.
Ich wollte es nehmen.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Nate und kam zu mir.
Unsere Hände legten sich gleichzeitig auf den dicken Band und berührten sich.
Dieses Mal spürte ich keine Wärme durch Nates Haut strömen, dieses Mal empfand ich einen so großen Schmerz, dass ich meine Hand ruckartig zurückzog und aufschrie.
»Was ist passiert?«, rief Nate erschrocken.
Ich drückte meine Hand noch immer an meine Brust.
»Lass sehen«, verlangte er.
Meine Fingerkuppen waren zu Asche geworden.
Mein Herz fing an laut zu klopfen, und Nate schien noch blasser zu werden, als er es ohnehin schon war.
Er wollte etwas tun, wollte mir helfen, aber als er mich sanft an den Handgelenken nahm, kam der Schmerz wieder, und wir konnten beide sehen, was geschah. Es war seine Berührung. Es war Nate, der mich verletzte.
Meine Haut begann rissig zu werden, sie
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