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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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Ich bin gerade knapp einem Brand entkommen. Ich glaube, heute kann mich nichts mehr groß schockieren.«
    Das stimmte zwar nicht, aber es war zumindest das, was sie hören wollte.
    »O Thara!«, seufzte sie. »Willst du wirklich die Wahrheit wissen?«, fragte sie. »Und wenn du alles weißt – kannst du mir dann verzeihen?«
    Ich ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
    »Du bist meine Mutter«, sagte ich zärtlich. »Ich habe Vertrauen zu dir.«
    Sie blickte mich an und lächelte, als würde sie mich zum ersten Mal sehen.
    »Dann müssen wir jetzt hinaufgehen.«
    Charles erhob sich aus dem Sessel und steckte die Hände in die Hosentaschen.
    »Gut.«
    Langsam ging er aus dem Zimmer und wartete, bis wir bei ihm waren. Wir gingen zur Treppe und stiegen schweigend hinauf. Eine Stufe nach der anderen. Und jede war ein ganzer Berg.
    Ich hatte den Eindruck, das Haus sei riesengroß und dunkel geworden. Die merkwürdigen Gegenstände schienen uns anzustarren, und ich spürte nicht wie sonst die lockere, verspielte Atmosphäre der Villa.
    Ich fixierte Charles’ Rücken, der vorausging, und sah, wie er einen Schlüsselbund aus der Tasche zog.
    Vor der Mansardentür blieben wir stehen.
    Es war dieselbe Tür, vor der Christine, Leonard und ich bei unserem ersten Besuch im Haus stehen geblieben waren. Dieselbe Tür, hinter der sich laut Charles nichts Interessantes befand.
    Er steckte den Schlüssel ins Türschloss und drehte ihn dreimal um.
    Eins.
    Zwei.
    Drei.
    Der Schließmechanismus hallte durch das ganze Haus, als würde man die Pforte zu einer anderen Welt öffnen.
    Charles legte die Hand auf die Klinke, und schien sie mit übermenschlicher Kraft hinunterdrücken zu müssen.
    Was fast zwanzig Jahre verschlossen gewesen war, würde nun ans Licht kommen.
    Die Tür ging auf.
    Charles trat zur Seite und ließ mich vorbei. Hinter der Tür sah ich nur feierliches Dunkel.
    »Tritt ein«, sagte er.
    Kaum hatte ich einen Fuß in das Zimmer gesetzt, schien es mir, als hörte ich Dielen knarren und das Echo ferner Stimmen. Das Licht ging an.
    Da war ein Zimmer. Ein Zimmer voller Kartons und mit einem schmalen Bett. Alles war ordentlich, aber es roch muffig.
    Meine Mutter stellte sich neben mich. Sie hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen.
    »Ich kann nicht glauben, dass du das alles aufbewahrt hast!«, sagte sie leise zu Charles.
    Er lächelte und ging an uns vorbei zu einer Kommode. Er zog eine Schublade auf und nahm ein Foto heraus. Dann drehte er sich wieder zu uns und gab es mir.
    Es war das gleiche Foto, das ich am See von Gorey gesehen hatte, ein Abzug desselben Motivs, aber in sehr gutem Zustand.
    Da waren Charles, Ray, der Schriftsteller, meine Mutter und … Kolor. Mein Vater.
    »Also ist er es.« Ich deutete mit dem Finger auf das Gesicht hinter dem Glasrahmen.
    Er war mager und sah traurig aus, schien aber glücklich zu sein, meine Mutter im Arm zu halten. Er war kahl, und er hatte schmale, blasse Hände.
    »Kannst du es denn glauben?«, fragte meine Mutter mit dünner Stimme.
    »Ja«, sagte ich. »Das erklärt vieles. Nicht alles, aber vieles.«
    Natürlich erklärte es nicht meine Fähigkeit, ins Cinerarium zu reisen, aber ich verstand nun, warum ich immer so müde war. Ich war die Tochter eines Vampirs und einer Menschenfrau. Mein Körper musste also ein Zwischending sein. Deshalb ging es mir nur in der Dämmerung gut – in der kurzen Übergangszeit zwischen dem Leben der Nachtwesen und dem Leben der Geschöpfe des Tages.
    »Lebt er noch?«, fragte ich gedehnt.
    Meine Mutter umschlang ihre Hüften und senkte den Blick. Sie ging an den Wänden des kleinen Zimmers entlang und betrachtete die Gegenstände melancholisch. Sie mussten sie an viele schmerzliche Dinge erinnern.
    »Wahrscheinlich.«
    »Und wo ist er jetzt?«, fragte ich weiter.
    Meine Mutter konnte nicht antworten.
    »Vielleicht im Schloss von Gorey …«, sagte Charles und wurde sofort von dem bösen Blick meiner Mutter zum Schweigen gebracht.
    Sie blieb neben der Dachluke mit dem heruntergelassenen Rollladen stehen und sah durch die kleinen Lichtspalte nach draußen.
    »Ich habe ihn geliebt«, sagte sie selbstvergessen. So vergessen wie die ganze Geschichte. »Ich habe ihn wirklich geliebt. Kolor war wunderbar. Wir hatten es geschafft, ein halbwegs normales Leben zu führen. Eigentlich.« Langsam drehte sie sich um. »Damals, vor zwanzig Jahren, wohnte er hier in diesem Zimmer, in diesem Haus, zusammen mit Ray, dem Autor des Buches, das

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