Ascheträume
ersten Mal traf, wurden mir die Rätsel zu viel. Das wichtigste Puzzleteilchen schien ich selbst zu sein, deshalb fand ich, dass ich ein Recht auf ein bisschen Wahrheit hätte. Die Konsequenzen waren mir inzwischen egal, es war mir gleichgültig, wie die Dinge mit meiner Mutter, Charles, Nate oder Ludkar ausgehen würden.
Ich wollte einfach nur die Wahrheit.
Ohne mir die Mühe zu machen, mich abzutrocknen, lief ich zum Schultor.
»Wo gehst du hin?«, fragte Christine.
Ich blieb kurz stehen und drehte mich um.
»Ich will herausfinden, wer ich bin«, sagte ich. »Kommt ihr mit?«
Auf dem Weg zu Charles erzählte ich meinen Freunden, was geschehen war. Erst schienen sie an meiner Geschichte zu zweifeln, aber dann mussten sie der Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Wahrheit selbst oft am schwersten zu glauben war.
Das Tor zur Villa stand offen. Charles’ Frau Sally goss gerade die Iris. Besorgt sah sie mich an, vielleicht weil ich völlig durchnässt war, aber sie ließ mich dennoch eintreten. In der Haustür blieb ich stehen, ich hörte eine vertraute Stimme: meine Mutter.
»Macht es euch etwas aus, draußen auf mich zu warten?«, fragte ich meine Freunde. »Das hier könnte ein bisschen schwierig werden.«
Sie schnaubten, ließen mich aber allein ins Haus gehen.
Auf Zehenspitzen folgte ich den Stimmen. Lauschen war nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung, aber wenn ich über etwas im Unklaren gelassen wurde, das mich so direkt betraf, hatte ich wohl keine andere Möglichkeit.
Als ich durch den Flur ging, achtete ich darauf, Charles’ Krimskrams nicht zu berühren. Fast hätte ich ein mechanisches Äffchen in Gang gesetzt, das in die Hände klatschte. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer blieb ich stehen. Charles und meine Mutter steckten in einer lebhaften Diskussion.
»Wie kommst du dazu, ihr das Buch zu geben?«, schrie meine Mutter.
»Aber ich habe doch gar nichts damit zu tun!«, verteidigte sich Charles. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wie sie da drangekommen ist.«
»Wir hatten eine Abmachung, Charles – wir hatten die Abmachung, dass wir Thara nie etwas davon erzählen!«, sagte meine Mutter mit einer Heftigkeit, wie ich sie noch nie aus ihrem Mund gehört hatte. »Siebzehn Jahre ist alles gut gegangen. Das können wir doch jetzt nicht alles zunichtemachen!«
»In diesem Alter sind Kinder nun mal neugierig, das ist normal …«
»Charles!«, fuhr sie ihm über den Mund. »Neugier ist gut und schön, aber wir können nicht zulassen, dass das Mädchen sich sein Leben zerstört! Thara kommt sich schon komisch genug vor, auch ohne zu wissen …« – dies war der Moment, in dem ich die ganze Wahrheit erfuhr: »… ohne zu wissen, dass ihr Vater ein verfluchter Vampir ist!«
Bei diesen Worten setzte mein Gehirn aus.
Meine Mutter hatte keinen Witz gemacht.
Dann war dieses Buch also kein erdichteter Roman. Nun wurde mir so einiges klar. Meine Augen, meine Schlafkrankheit.
Mein Arm sank an mir herunter. Ich hatte keine Kontrolle mehr über die Situation und fiel gegen die Tür.
Ohne es zu merken, stand ich plötzlich im Wohnzimmer.
Vor mir saßen Charles und meine Mutter, mindestens genauso bestürzt wie ich, und starrten mich an.
Keiner sagte ein Wort. Wir starrten uns einfach nur an.
Langsam ging ich auf sie zu und sah sie an, als wären sie zwei Fremde. Auf einmal hatte sich alles verändert. Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen. Und die beiden waren an dieser riesigen Lüge beteiligt.
Ich setzte mich in den freien Sessel neben dem Skelett. Das Gesicht meiner Mutter war vollkommen ausdruckslos. In Charles’ Gesicht konnte ich ein wenig Regung erkennen. Ich fuhr mir über die Stirn und strich mir die nassen Haare zurück.
»Dann …«, sagte ich mit einem Lächeln, weil ich nicht richtig wusste, wie ich es ausdrücken sollte, »… dann war mein Vater also ein … Vampir.«
Meine Mutter wurde ohnmächtig.
Eine Viertelstunde später kam sie wieder zu sich. Wir bestanden darauf, dass sie sitzen blieb, aber sie wollte trotzdem aufstehen.
»All das hätte nie passieren dürfen«, sagte sie immer wieder, als wollte sie aus einem grauenvollen Albtraum erwachen. »All das hätte nie passieren dürfen …«
Ich sah Charles an, aber er hielt meinem Blick nicht stand. Er musste sich mir gegenüber schrecklich schuldig fühlen. Ich lächelte ihm zu, und das schien ihn aufzumuntern.
»Was machen wir jetzt?«, sagte meine Mutter wie zu jemandem, der nicht im Raum war.
»Keine Sorge, Mama.
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