Ascheträume
dass wir uns liebten. Aber das würde ich mir dann überlegen, wenn es so weit war.
Auf der Fahrt waren wir alle sehr nachdenklich. Ich hatte meine Freunde auf den neuesten Stand gebracht, und nun versuchten sie, Ordnung in diese Informationsflut zu bringen. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, welche Mühe es ihnen bereitete, alles zu verarbeiten, was ich selbst erlebt hatte. Wir waren so angespannt, dass wir nicht einmal merkten, dass wir vergessen hatten, das Radio einzuschalten. Leonard schien fast schon ein ernsthafter Mensch geworden zu sein.
Ohne die Augen von der Straße abzuwenden, fragte er: »Also, Thara, dann bedroht dich dieser Ludkar nun nicht mehr?«
»Nein, es war alles nur ein Bluff, um mir Angst zu machen. Ich glaube, er hat das Interesse an mir verloren.«
»Hast du ihm gesagt, dass wir deinen Vater suchen?«, fragte Christine.
»Ich wollte es, aber er ist verschwunden, bevor ich dazu kam.«
»Schade eigentlich«, hörte ich Christine sagen.
»Was?«
»Dass er es war, der Esteban den Kopf gewaschen hat.«
Leo drehte sich um und lächelte ihr zu.
»Ach komm, die Sache mit den Fotos war auch nicht schlecht!«
Dann sah er mich an.
»Wie alt ist dieser Vampir deiner Meinung nach?«
»Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dreißig Jahre vielleicht oder tausend … Er ist ganz blass, fast weiß. Aber sehr attraktiv, auch wenn er ziemlich ausgeprägte Gesichtszüge hat, fast wie gemeißelt.«
»Und du glaubst, er kommt aus dem Cinerarium?«, fragte Leo.
»Ja, das sagt er jedenfalls. Er hat mich angeblich an meinem Geruch erkannt, als ich dort war.«
Dann kommt man aus diesem Cinerarium also wieder raus«, brummte Christine und richtete ihre Zöpfe. »Hast du das Nate schon gesagt?«
»Das will ich tun, sobald wir im Schloss sind.«
Wir brauchten eine halbe Stunde über Land, dann tauchte das Ortsschild auf.
Wir beschlossen, den Wagen an der Tankstelle abzustellen. Da war kein Mensch, und alles wirkte so, als sei es schon lange verlassen.
Wir stiegen aus, überquerten die Hauptstraße und gingen bis ganz vor zu der kleinen Kirche.
»Und wohin jetzt?«, fragte Christine. »Wo soll denn dieses Schloss sein?«
Ich sagte nichts und ging an der Kirche vorbei. Leonard folgte mir schulterzuckend. Gleich dahinter lag der See. Wir liefen zum Wasser. Die Oberfläche breitete sich vor uns aus wie ein blaues Tischtuch. Bei schönem Wetter war es hier gleich vollkommen anders.
Ich setzte die Sonnenbrille ab und suchte nach einem Dach zwischen den Hügeln.
Leo sammelte ein paar Kieselsteine und ließ sie übers Wasser hüpfen.
»Dort drüben!«, rief Christine und zeigte auf einen Punkt im Wald. Knapp über den Baumwipfeln ragte ein Türmchen hervor.
Wir machten uns am Ufer entlang auf den Weg und brachen drei Stöcke von einer Wurzel ab, die an den Kieselstrand gespült worden war. Sie könnten uns später auf dem Weg noch nützlich sein. Der Hang, den wir erklimmen mussten, wirkte nicht gerade leicht begehbar.
Bevor wir uns unterhalb des Schlosses an den Aufstieg machten, sahen wir am Ufer einen kleinen Holzsteg, der fast ganz vom Wasser überspült war. Aber da war kein Boot festgemacht, da hingen nur Algen.
Wir kletterten den Hang hinauf, der von welkem Laub bedeckt war. Das kam mir komisch vor, es wirkte alles so herbstlich. Der Anblick der erloschenen Farben und der Geruch von Humus vermischten sich zu einem einzigartigen Sinneseindruck.
Zwischen den Bäumen hindurch bahnten wir uns einen Weg, indem wir uns an rissigen Baumstämmen und an unseren Stöcken festhielten.
Leo suchte nach einem bequemeren Aufstieg, ich aber sagte ihm, selbst wenn es einen geben würde, wäre es nicht der unsere.
Wenn wir den Kopf hoben, sahen wir dürre Äste, die ineinander verwoben waren wie die Fäden eines riesigen schwarzen Spinnennetzes. Keiner gab es zu, aber alle drei hatten wir doch etwas Angst. Genervt verscheuchte Christine ein paar Insekten, während ich auf der Suche nach Fußspuren ständig von rechts nach links blickte.
Dann tauchte es vor uns auf. Fast unerwartet. Als sei es gerade erst aus der Erde gesprossen. Wie ein steinernes Schiff.
»Mann!« Leo hob den Kopf und stellte sich neben mich.
Vor uns lag das Schloss.
Oder, besser gesagt, das, was davon noch übrig war.
Der große Bau aus schwarzem Stein ragte imposant in die Höhe. Überall lagen Statuen, eingestürzte Mauern, Dachziegel und Säulen herum.
»Sieht so aus, als sei es vor vielen Jahren abgebrannt«, sagte
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